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Zankapfel Ukraine
Wie Russland Kiew aus der Nato heraushalten will
Panzer, Truppenbewegungen, Satellitenbilder von Militärlagern: Seit November lässt Russland bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr seine Armee an der ukrainischen Grenze aufmarschieren. Erneut sollen 100 000 russische Soldaten in der Region stehen. Während ukrainische Militärs die potenzielle Bedrohung ihres Landes anfangs noch herunterspielten, rätseln westliche Beobachter über die Hintergründe des Aufmarsches. »Überfällt Russland die Ukraine?«, fragten deutsche Tageszeitungen, oder: »Will Putin Krieg?« Der russische Präsident wies die Anschuldigungen zurück und drückte einen Videogipfel mit US-Präsident Joe Biden durch. Das Gespräch über den Ukrainekonflikt ging Anfang Dezember allerdings ohne konkrete Ergebnisse zu Ende.
Genau zehn Tage später ließ Moskau dann die Katze aus dem Sack und machte klar, worum es bei dem Aufmarsch eigentlich ging: Das russische Außenministerium veröffentlichte Vertragsentwürfe mit weitreichenden Forderungen. Die USA sollen eine Osterweiterung der Nato und die Errichtung von US-Militärstützpunkten in Ländern der ehemaligen Sowjetunion untersagen. Zudem soll das westliche Militärbündnis die Aufnahme weitere Staaten stoppen. Die Forderung zielt in erster Linie auf die Ukraine - dem einzigen Land, welches in den Dokumenten namentlich genannt wird.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Selbst kremlnahe Analysten bezeichneten die Forderungen, welche auf eine Umgestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur, eine juristische Anerkennung der russischen Einflusssphäre im postsowjetischen Raum sowie die Einrichtung eines Sicherheitspuffers in Mittelosteuropa hinauslaufen würde, als weitgehend. »Noch nie war der Trommelwirbel des Krieges in der jüngeren Geschichte Russlands ohrenbetäubender«, kommentierte sogar die Boulevardzeitung »Moskowskij Komsomolez« und wunderte sich über den emotionalen Tonfall der Forderungen. »Bei allen unangenehmen Handlungen der Nato - hat Putin einen Plan B?« Eine Analyse des russischen Exilmediums »Meduza«, ansässig in der lettischen Hauptstadt Riga, kommt zu dem Schluss: »Moskau will anscheinend mit allen Mitteln und ein für alle Mal Garantien dafür erhalten, dass die Ukraine nicht der Nato beitreten wird.« Auf mündliche Zusicherungen wie noch in den 1990er Jahren wolle man sich nicht mehr verlassen. Der Kreml bestehe auf einen schriftlichen Vertrag. Wie ernst es Putin meint, demonstrierte er auf seiner Jahrespressekonferenz am vergangenen Donnerstag. »Sind wir etwa an die Grenzen Großbritanniens und der USA herangerückt?«, echauffierte sich der russische Präsident. »Und jetzt sagt man uns: Nein, auch die Ukraine kommt in die Nato?« Eine solche Möglichkeit müsse das Bündnis kategorisch ausschließen und Sicherheitsgarantien geben - »jetzt und sofort«.
Doch wie real ist das von Putin beschworene Szenario? Steht die Ukraine wirklich kurz vor einem Beitritt zur Nato, wie es der russische Präsident behauptet? Dafür gibt es keine Anzeichen. Die besten Chancen auf einen Beitritt der Ukraine zu dem Militärbündnis liegen inzwischen 13 Jahre zurück. 2008 drängte der während der Orangenen Revolution 2004 gewählte ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko auf die Aufnahme seines Landes. Auch US-Präsident George W. Bush sprach sich dafür aus und warb auf dem Nato-Gipfel 2008 - an dem auch Wladimir Putin teilnahm - massiv für eine Mitgliedschaft des Landes. Die Ukraine wollte einem sogenannten NATO Membership Action Plan (MAP) beitreten, mit dem Länder zu einer Vollmitgliedschaft geführt werden. Doch Deutschland und Frankreich stellten sich quer, da Russland eine Aufnahme der Ukraine als Provokation gewertet hätte.
Stattdessen erhielt Kiew eine grundsätzliche - und unverbindliche - Beitrittsperspektive ohne zeitlichen Rahmen. In der Ukraine wird seitdem angenommen, dass die Nato-Mitgliedschaft nur noch eine Frage der Zeit ist. Doch in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten kam Kiew seinem selbst gesteckten Ziel nicht näher. Unter der Präsidentschaft von Juschtschenkos Nachfolger Wiktor Janukowytsch rückte das Land sogar vorübergehend wieder vom Nato-Kurs ab: Mit Blick auf Moskau setzte Janukowytsch auf einen blockfreien Status der Ukraine.
Es waren vor allem die russische Okkupation der Krim 2014 und Moskaus Einmischung in den Konflikt im Donbass, welche eine Nato-Mitgliedschaft für Kiew wieder attraktiver machten. Petro Poroschenko, der nach dem Sturz Janukowytschs zum Präsidenten gewählt wurde, forderte ebenso nachdrücklich wie ergebnislos die Aufnahme in die Nato. Auch der aktuelle Präsident Wolodymyr Selenskyj drängt auf einen beschleunigten Beitritt. »Die Nato ist der einzige Weg, den Krieg im Donbass zu beenden«, sagte er während des ersten russischen Truppenaufmarsch im April dieses Jahres. Die Forderungen verhallten ergebnislos. Zwar war der Ukraine im Jahr zuvor der Status eines Nato-Partners mit vertieften Mitwirkungsmöglichkeiten zuerkannt worden, womit das Land an Ausbildungsmissionen, Nato-Übungen und Austausch innerhalb der Allianz teilnehmen kann. Eine beschleunigtes Beitrittsverfahren ist mit dem Status aber nicht verbunden.
Glaubt man den von Washington vorgebrachten Einwänden, sprechen von allem von Kiew vernachlässigte aber notwendige Reformen gegen eine Aufnahme in die Nato. Zudem gehört es zum Nato-Grundverständnis, kein neues Mitgliedsland aufzunehmen, das sich in einem Konflikt um eigenes Territorium befindet. Noch wichtiger ist ein anderer Punkt: Unter den Nato-Staaten gibt es nach wie vor keine Einigkeit über eine Mitgliedschaft der Ukraine. Während Polen und Balten auf eine beschleunigte Aufnahme des Landes drängen, bleiben Deutschland und Frankreich mit Blick auf russische Sicherheitsinteressen bei ihrer Ablehnung. Einer Aufnahme der Ukraine müssten aber alle 30 Bündnismitglieder zustimmen. Dass die neue Bundesregierung unter Olaf Scholz (SPD) von der traditionellen deutschen Zurückhaltung abrückt, ist aber unwahrscheinlich. Auch Washingtons Haltung bleibt trotz aller Lippenbekenntnisse distanziert. Präsident Joe Biden erklärte nach dem Videogipfel mit Putin, im Falle eines Einmarsches russischer Truppen keine Soldaten in die Ukraine schicken zu wollen - wohl aber in die Nato-Nachbarländer der Ukraine.
Warum Wladimir Putin trotz des unwahrscheinlich erscheinenden Szenarios eines baldigen ukrainischen Nato-Beitritts auf »sofortige« Zusagen Washingtons besteht, ist unter Experten umstritten. Putin wolle das ungelöste Ukraineproblem nicht wie Gorbatschow seinem Nachfolger überlassen, tippt Alexander Baunow vom Moskauer Carnegiezentrum. Der Präsident verteidige Russland und befürchte einen Erstschlag der Amerikaner, analysiert der Journalist Konstantin Gaase.
Was auch immer hinter Putins Rhetorik steckt - sein Ziel hat er erreicht: Wie Moskau am Dienstag bestätigte, kommen die USA und Russland am 10. Januar zu Beratungen zusammen. Zwei Tage später folgen Gespräche mit der Nato, am 13. Januar mit der OSZE.
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