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Nicht von gestern
Was mit den Redlichen Pionieren begann, ist heute Unesco-Kulturerbe: Genossenschaften
Wurzeln der neuen nd-Genossenschaft reichen über 175 Jahre zurück, geografisch bis in den kleinen Ort Rochdale, der in der Nähe von Manchester liegt. Die »Equitable Pioneers« waren Handweber, ihre Einkommen gering, die Familien lebten in Armut. 28 Weber »helfen sich selbst«, erzählt der Hamburger Publizist Armin Peter. Sie gründeten 1844 die weltweit erste Konsumgenossenschaft.
Am Anfang hatten die »Redlichen Pioniere« nur Mehl, Zucker, Butter und Hafergrütze im Angebot. Dabei ging es ihnen vor allem um ordentliche Qualitäten. Fälschung und Betrug sind im Lebensmittelhandel des 19. Jahrhunderts nämlich gang und gäbe. »Von den Rochdale-Pionieren haben alle Genossenschaftsformen gelernt«, sagt Peter, der im kleinen, aber feinen Genossenschafts-Museum im elften Stock des Gewerkschaftshauses in Hamburg tätig ist.
Hamburg wurde zur ungekrönten Hauptstadt der deutschen Genossenschaftsbewegung. Den Anstoß gab der Streik von Hafenarbeitern und Seeleuten zum Jahreswechsel 1896/97. Elf Wochen lang bestreikten bis zu 17 000 Proleten den Hafen. Gewerkschaftliche Streikfonds gab es im Kaiserreich noch nicht, der Hunger grassierte in den Arbeiterfamilien. Es wuchs die Idee, durch eine Genossenschaft zu helfen: 700 Teilnehmer zählt dann die Gründerversammlung.
Der »Konsum-, Bau- und Sparverein Produktion«, kurz »Pro«, entwickelte sich fortan rasant: In der Hansestadt und den Nachbarorten entstanden Hunderte Läden. Auch in Berlin, Hannover, Frankfurt und anderswo wurden bald erste Konsumgenossenschaften gegründet.
Im Umfeld der an der Elbe legendären Pro entstanden unter anderen die Arbeiterwohlfahrt und die Versicherungsgesellschaft Volksfürsorge (heute Generali). Und bald wurden in den Pro-Läden eigene Produkte angeboten: Brötchen, Fahrräder und Zigarren. Während der Weimarer Republik unterhielt der Dachverband, die Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine (GEG) in Hamburg, dann über 50 große Produktionsbetriebe deutschlandweit. Der Machtantritt Adolf Hitlers läutete 1933 das zwischenzeitliche Aus des gemeinnützigen Großkonzerns GEG ein.
Konsum und HO
Die Sowjetische Militäradministration ließ Konsumgenossenschaften schon wenige Monate nach Kriegsende wieder zu. Von den Nazis eingezogenes Vermögen wurde an HO und Konsum zurückgegeben. Bereits Mitte 1946 gab es in Ostdeutschland wieder ein komplettes Netz an Genossenschaften.
Im Westen verlief der Neubeginn zäher. Den Besatzungsmächten waren Genossenschaften eher fremd; sie wurden, wie von den Briten, als »sozialistisch« kritisch beäugt. Der Ernährungskrise begegnete die neue GEG mit einer eigenen Fischfangflotte und einer Fischwarenfabrik in Altona.
Doch die Konkurrenz der ersten Selbstbedienungsläden, später von Discountern wie Aldi, verschärfte in den 1960er Jahren den Konkurrenzkampf. »Für die zwei Millionen Konsumgenossen wird später die Eigenproduktion zum Klotz am Bein«, so Peter. Die unterbliebenen Investitionen während der Nazi-Zeit rächten sich jetzt, und die Banken misstrauten der ohnehin ungeliebten genossenschaftlichen Kundschaft.
In den 1970er Jahren fusionierten viele Genossenschaften. Sie änderten ihre Rechtsform und mutierten zu einer Aktiengesellschaft, um an frisches Kapital zu kommen. Die Coop AG, in der die meisten westdeutschen Konsumgenossenschaften aufgegangen waren, endete denn auch im Desaster. Trotz 50 000 Beschäftigter und eines Umsatzes von mehr als zehn Milliarden D-Mark wurde Coop 1989 liquidiert.
Volksbanken für den »Mittelstand«
Nachhaltiger wirtschaften genossenschaftliche Banken. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der aufblühende Kapitalismus auch die Existenz vieler Bauern und Handwerker bedroht. Die Gründer Hermann Schulze-Delitzsch (1808 - 1883) und der namensgebende Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 - 1888) bauten auf eigene, genossenschaftliche Kreditinstitute, »gegenüber der Bankbewegung des Großhandels und der Fabrikindustrie«.
Seither haben Volksbanken und Raiffeisenkassen die Lebensbasis von Millionen »kleiner« Leute finanziert, bewilligten Kredite für die Wintersaat, für Haus und Hof oder für den Tante-Emma-Laden an der Ecke. Für »normale« Banken waren Landwirte oder Handwerker lange nicht als Kunden in Betracht gekommen. Erst in den 1960er Jahren entdeckten die größeren privaten Banken den »Mittelstand« als potenzielle Kundschaft, deren Erspartes als billigen Rohstoff.
Wie in den Konsumgenossenschaften kappte auch mancher Genossen-Bankier seine Wurzeln. Zum Ärger der Gewerkschaft Handel Banken Versicherungen, später Verdi. Manche Volks- und Raiffeisenbank sei »auf dem Weg zum Shareholder Value«, hieß es bei der Gewerkschaft. Die Genossenschaftsbanken sollten »Boutique statt Aldi« bleiben. Mittlerweile sind die meisten beides.
Von ehedem über 7000 Volks- und Raiffeisenbanken sind laut Bundesbank nach etlichen Zusammenschlüssen 814 übrig geblieben, die vor allem auf dem Land stark sind. Die Zahl der Beschäftigten sank seit 2012 um 20 000 auf 138 000. Diesen vertrauen 18,4 Millionen Mitglieder ihr Geld an. Mehr denn je.
Die Zwänge eines kapitalistischen Marktes, auf dem ein Überangebot besteht und auf dem über Internet oder Smartphone ständig neue Wettbewerber auftauchen, spüren Wohnungsbaugenossenschaften nicht. Ende des 19. Jahrhunderts gründeten Bürger sowie einzelne Berufsstände die ersten Genossenschaften, um Wohnungen bauen zu lassen. Damit reagierte man auf die zunehmende Wohnungsnot infolge der Industrialisierung, die in kurzer Zeit die Einwohnerzahl vieler Städte vervielfachte.
Von den 42,8 Millionen Wohnungen in Deutschland sind heute 2,2 Millionen Genossenschaftswohnungen. Aufgrund der langen Tradition hat Hamburg einen besonders hohen Genossenschaftsanteil: 135 000 Wohnungen, gut ein Fünftel aller Mietwohnungen, sind genossenschaftlich. Nach Angaben ihres Dachverbandes HWG lag die Durchschnittsmiete stets rund 20 Prozent unter dem Mittelwert des Mietenspiegels. »Hier zeigt sich wieder«, so ein Sprecher, »die Wohnungsbaugenossenschaften sind die wahre Mietpreisbremse.«
Sehnsucht nach Idylle
»Hilfe zur Selbsthilfe«, lautete das ungeschriebene Motto aller Genossenschaftsgründungen. »Allen ist gemein, dass die Mitglieder zugleich Eigentümer und Kunden ihrer Genossenschaft sind«, so der Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband (DGRV). Das sogenannte Identitätsprinzip unterscheidet eine Genossenschaft von allen anderen Formen der kooperativen Zusammenarbeit, etwa der von Gewerkschaften gegründeten »Gemeinwirtschaft«.
Die Idee dezentraler Genossenschaften blieb nicht frei von linker Kritik. »Dieser Populismus träumt von einer mittelständischen, auch genossenschaftlichen Wirtschaft«, kritisierte der 2016 verstorbene Ökonom Herbert Schui. Dahinter stehe die Sehnsucht nach einer Idylle, so Schui, in der es keine machtvollen Großunternehmen und keine bedrohliche Globalisierung gebe.
»Die Genossenschaft als Rechtsform ist urdemokratisch«, konterte der langjährige Vorstandsvorsitzende des »Genossenschaftsverbandes - Verband der Regionen«, Ralf Barkey. Jedes Mitglied hat ein Stimmrecht in der Generalversammlung oder kann - in größeren Genossenschaften - Delegierte für die Vertreterversammlung wählen.
Obendrein werden Gewinne an die Mitglieder verteilt. Davon profitieren ebenfalls etwa 50 000 Mitglieder in überwiegend großflächigen Agrargenossenschaften. An die 700 frühere LPG bewirtschaften schätzungsweise 40 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Ostdeutschland.
Bundesweit gehören 22,6 Millionen Mitglieder in 7000 Genossenschaften dem Dachverband der Genossenschaftsgruppe, dem DGRV in Berlin, an. Jeder vierte Bürger ist statistisch gesehen Mitglied einer Genossenschaft. Und die Szene wächst - auch dort, wo man es am wenigstens vermuten dürfte. Der Berliner Verein Gesellschaftsspiele gewann für seine Skizze eines genossenschaftlichen Fußballverbandes den »Utopie-Preis« der Deutschen Akademie für Fußballkultur und die Aufmerksamkeit von Klubs wie dem FC St.Pauli.
Inzwischen wurden Genossenschaften von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt. Wirtschaftlich sind Genossenschaften keine Utopie mehr, sondern solide. Dafür sorgt in Deutschland seit 1889 das zuletzt im August aktualisierte Genossenschaftsgesetz. Danach muss jede Genossenschaft einem Prüfverband wie dem »Genossenschaftsverband - Verband der Regionen« angehören. Das Prüfungsrecht wird dem Verband durch eine Landesbehörde verliehen. Wirtschaftliche Schwierigkeiten sind dadurch nicht ausgeschlossen, wie einige wenige Insolvenzen zeigen. Gelegentlich wurde auch Kritik an dieser Form der Selbstkontrolle laut. Letztlich sind aber die meisten Genossenschaften Wirtschaftsunternehmen, die dem Wohl der Mitglieder, aber nicht dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet sind.
In der Folge sind Genossenschaften heute oft nur noch nützliche Dienstleistungsunternehmen. Wer mehr will, findet dieses bei kleineren Genossenschaften, die alternative Wohnformen praktizieren, Windräder finanzieren oder Dorfversorger-Läden gründen. Hunderte solcher teils gemeinnütziger Genossenschaften haben sich im Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften zusammengeschlossen, der auch das Museum in Hamburg betreibt. Das prominentestes Mitglied heißt »taz Die tageszeitung Verlagsgenossenschaft«.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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