Der Computer als Biochemiker

Die Corona-Pandemie dominierte die Medienberichte, doch in der Wissenschaft gab es 2021 mehr als nur Impfstoffe und Mutanten

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Wissenschaftsberichterstattung stand auch 2021 noch ganz im Banne von Covid-19. Die Pandemie und die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus behinderten den Forschungsbetrieb kaum weniger als das übrige gesellschaftliche Leben weltweit. Dennoch gab es im vergangenen Jahr auch eine Fülle bemerkenswerter Forschungsergebnisse jenseits der Corona-Forschung. Die US-Wissenschaftszeitschrift »Science«, die im Vorjahr noch die rekordverdächtig schnelle Entwicklung von Impfstoffen mit neuen Wirkprinzipien als »Durchbruch des Jahres« feierte, sieht dieses Jahr ein ganz anderes Gebiet vorn: die Anwendung Künstlicher Intelligenz in der Biochemie.

Die Eiweißmoleküle, aus denen lebende Zellen bestehen, setzen sich zwar nur aus wenigen Bausteinen zusammen - insgesamt 20 verschiedenen Aminosäuren -, doch ihre räumliche Struktur kann unzählige Formen annehmen. Und diese räumliche Struktur ist wesentlich für ihre Funktion in der Zelle und beim Zusammenspiel der Zellen. Wenn wegen einer Abweichung (Mutation) im genetischen Bauplan nur eine Aminosäure im Molekül wechselt, verändert sich die räumliche Struktur. Sind es, wie aktuell beim Spike-Protein des Coronavirus Sars-CoV-2, gleich mehrere dieser Bausteine, dann kann das Protein unter Umständen besser an die Wirtszelle koppeln und wird schlechter von den Antikörpern der Immunabwehr gefangen.

Bis vor wenigen Jahren gab es nur ziemlich aufwendige Techniken, um den räumlichen Aufbau von Eiweißen zu ermitteln: Wenn sich Kristalle davon bilden ließen, dann funktionierte die Röntgenkristallografie - inzwischen kann man sie auch gefroren mithilfe von Elektronenmikroskopen bestimmen oder auch mit der Magnetresonanzspektroskopie. All das ist aufwendig, kann pro Protein Jahre dauern und Hunderttausende Dollar kosten.

Deshalb war für die Redaktion und die Leser von »Science« ein computergestütztes Verfahren zur Strukturbestimmung der »Durchbruch des Jahres 2021«. Im Vorjahr war die Methode, mithilfe Künstlicher Intelligenz und des sogenannten Deep Learning, bereits auf den Plätzen der »Science«-Hitliste. Inzwischen ist die Methode in der Lage, mit der gleichen Treffgenauigkeit die Struktur aus der Abfolge der Aminosäuren abzuleiten wie die experimentellen Verfahren. Da die Abfolge der Aminosäuren sich aus der zugehörigen Gensequenz ergibt, muss der Computer nur mit dieser Gensequenz gefüttert werden, um eine Struktur zu liefern. Und das geht in einem Bruchteil der Zeit und mit wesentlich geringeren Kosten. »Der Durchbruch bei der Proteinfaltung ist einer der größten aller Zeiten, sowohl in Bezug auf die wissenschaftliche Leistung als auch mit Blick auf dadurch mögliche künftige Forschungen«, schreibt »Science«-Chefredakteur Holden Thorp.

Programme wie AlphaFold des Google-Schwesterunternehmens DeepMind und RoseTTAFold von der University of Washington (Seattle) trainierten an den experimentell ermittelten Strukturen bisher bekannter Proteine. In mehreren wissenschaftlichen Veröffentlichungen des zu Ende gehenden Jahres wurde inzwischen von mehr als 350 000 Proteinen des Menschen die 3D-Struktur mit der neuen Methode aufgeklärt. Bemerkenswert dabei: Sowohl der Programmcode als auch die Datenbank der damit ermittelten Molekülstrukturen sind für alle Wissenschaftler zugänglich.

Diese Revolution der Biochemie sah auch das britische Konkurrenzjournal »Nature« unter den herausragenden wissenschaftlichen Leistungen des Jahres: AlphaFold-Entwickler John Jumper kam unter die Top 10 der einflussreichsten Wissenschaftler des Jahres. Bei »Nature« spielte in dieser Liste auch - anders als bei »Science« Covid-19 eine wichtige Rolle. Angefangen von Tulio de Oliveira, der in Südafrika an der Entdeckung der Omikron-Mutante beteiligt war, über die britische Epidemiologin Meaghan Kall für ihre Verbreitung allgemeinverständlicher Informationen zur Pandemie bis hin zu Chefin von Unaids wegen ihres Eintretens für eine gleichberechtigte globale Verteilung von Covid-19-Impfstoffen.

Auf der Jahreshitliste von »Science« kommt Corona lediglich mit den ersten erfolgreichen Tests zweier potenzieller Mittel gegen Covid-19 und den - bisher viel zu teuren - künstlichen Antikörpern vor. Letztere wurden bisher vor allem in der Behandlung einiger Krebs- und Autoimmunerkrankungen genutzt. In diesem Jahr gab es auch Versuche, sie gegen Covid-19 und das für Kleinkinder gefährliche Humane Respiratorische Synzytial-Virus einzusetzen.

Ansonsten dominiert bei »Science« auf den Plätzen die Grundlagenforschung. So etwa die Untersuchung von Verwandtschaftsverhältnissen und Wanderungsbewegungen fossiler Menschen- und Tierarten anhand im Boden gefundener alter »Schmutz-DNA«. Dieses Forschungsfeld kam bei den Lesern von »Science« knapp auf Platz zwei.

Platz drei bei Lesern und Redakteuren war die Behandlung vererbter Stoffwechsel- und Augenkrankheiten mithilfe der Genschere Crispr. Mit der erfolgreichen Erhaltung von künstlichen Mausembryonen außerhalb des Mutterleibs kam noch ein weiteres medizinisches Feld in die Top 10 von »Science«. Damit habe man ein Ersatzmodell für die Frühentwicklung menschlicher Embryonen.

Die Physik war für zwei Einträge in die Hitliste der »Science«-Redaktion gut. Zum einen die nach wie vor nicht anwendungstaugliche Energiegewinnung mittels Kernfusion. Begründung: Ein Versuch mit Laserbeschuss lieferte annähernd so viel Energie, wie hineingesteckt wurde. Einige private Firmen planen laut »Science« den Betrieb energieerzeugender Demonstrationskraftwerke für 2025.

Zum anderen ein möglicher Riss in dem bislang gut bestätigten sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik. Es könne sein, so schreibt Redakteur Adrian Cho, dass eine kleine Abweichung beim Magnetismus des Myons - ein schwerer Verwandter des Elektrons - von der theoretischen Vorhersage einen Weg über das seit Jahrzehnten geltende Standardmodell hinaus weist. Das wurde zwar wiederholt experimentell bestätigt, lässt aber sowohl die Schwerkraft aus als auch die rätselhafte Dunkle Materie. Möglicherweise bringt der aufgerüstete Teilchenbeschleuniger LHC am europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf eine Erklärung der Abweichungen, wenn er im Frühjahr wieder in Betrieb geht.

Unter Umständen kommt nun die Anwendung psychedelischer Drogen bei der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen aus der Nische. Eine große Studie, wie 3,4-Methylendioxymethamphetamin (MDMA), im Volksmund Ecstasy genannt, erfolgreich zur Unterstützung der Gesprächstherapie bei der Behandlung von Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung eingesetzt wurde, fand jedenfalls Eingang in die Hitliste von »Science«. Vielleicht aber führt die Studie auch nur zu einer Reform des Studien-Designs in der Psychiatrie. Denn wenn die Probanden an der psychoaktiven Wirkung erkennen, ob sie den Wirkstoff oder das Placebo bekommen haben, können Erwartungen das Ergebnis beeinflussen.

Ein Berührungspunkt zwischen der wissenschaftlichen Jahresbilanz von »Science« und der von »Nature« ist die Erkundung unseres Nachbarplaneten, des Mars. Während bei »Science« die nach anfänglichen Schwierigkeiten erfolgreiche seismische »Durchleuchtung« des Roten Planeten die US-Mission »InSight« in die Hitliste brachte, reiht »Nature« den technischen Direktor des chinesischen Marsprogramms Zhang Rongqiao unter die zehn einflussreichsten Wissenschaftler ein. China landete unter Zhangs Leitung als zweites Land ein automatisches Fahrzeug erfolgreich auf der Marsoberfläche. »InSight« wiederum konnte dank mehrerer schwacher Marsbeben mit seinen Messgeräten aufklären, dass die Marskruste weniger als 40 Kilometer dick und der flüssige Planetenkern ungewöhnlich groß ist.

Wie in jedem Jahr verzeichnet »Science« auch eine Reihe der »Reinfälle« des Jahres. An der Spitze steht das weitgehende Versagen der Weltgemeinschaft beim Abbremsen der Klimaerwärmung. Von den deklarierten maximal 1,5 Grad über dem vorindustriellen Zeitalter hat die Welt inzwischen bereits 1,2 Grad erreicht. Zu den Reinfällen zählt »Science« als US-Zeitschrift auch die Zulassung eines Alzheimer-Medikaments durch die Arzneimittelbehörde FDA gegen die Empfehlung des unabhängigen Beratergremiums. In Europa ist dieses Medikament bei der zuständigen EMA durchgefallen. Der dritte Reinfall ist ein alter: Die Leugnung unerwünschter wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Bedrohung von Forschern sind nicht mit Ex-Präsident Donald Trump verschwunden. Ein Problem, das längst nicht nur die USA oder irgendwelche Diktaturen betrifft ...

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