Die Kinder bleiben im Flüchtlingslager zurück

Deutschlands Politik führt dazu, dass Familien auseinandergerissen werden. Das zeigt die Geschichte von Rukan und ihren Töchtern

  • Tim Lüddemann
  • Lesedauer: 8 Min.
Die drei Töchter von Rukan blieben zurück in einem griechischen Flüchtlingslager.
Die drei Töchter von Rukan blieben zurück in einem griechischen Flüchtlingslager.

Das Rattern einer kleinen Klimaanlage erfüllt den engen Baucontainer. Sie läuft den ganzen Tag auf Hochtouren, um den schmucklosen Raum mit trockener, warmer Luft aufzuwärmen. Auch in Griechenland wird es im Winter kalt. Die drei Mädchen liegen auf ihren Betten und versuchen, sich die Langeweile zu vertreiben. Maryam scrollt auf ihrem Handy in Dauerschleife von einem Video zum nächsten. Fünf bis zehn Sekunden lang dröhnt das Fragment eines Popsongs aus den Lautsprechern. Dann kommt das nächste Video mit dem nächsten Song. «Kannst du bitte leise machen?», fragt ihre Schwester Rima. Ohne zu antworten oder zu Rima zu blicken, betätigt Maryam die Lautsprechertaste an ihrem Telefon und stellt die Songs leiser. Noor, die jüngste der Schwestern, malt währenddessen mit einem Filzstift auf ihrem Block: Donuts, einen Kuchen, Menschen und ihre Mutter, die sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen hat.

Für die drei Mädchen ist das Beschäftigungstherapie in ihrem monotonen Leben. Seit zwei Jahren waren sie nicht mehr in der Schule. Sie haben kein Einkaufszentrum, Kino oder Café, wo sie hingehen könnten. Ein Baucontainer ist ihr Zuhause. Er ist eng und misst etwa 15 Quadratmeter. Der Wohnraum ist gleichzeitig Durchgangsraum zur Toilette. Drei Seiten sind jeweils besetzt mit den dicht an dicht stehenden Betten, die vierte mit einer kleinen Küchenablage. Durch eine schmale Tür kommt man hinein.

Leben im Baucontainer

»Ich will nur meine Kinder bei mir haben.«

Seit drei Jahren leben Maryam (17), Rima (16) und Noor (12) unter diesen widrigen Bedingungen in einem griechischen Camp für Geflüchtete. Seitdem sind sie von ihrer Mutter getrennt, die sich in Deutschland aufhält. In ihrem Baucontainer gibt es kaum Raum für Bewegung. Das Leben der drei Schwestern findet auf ihren Betten statt. Sie gehen selten raus ins Camp. Dort ist alles trist und sie fühlen sich als junge Frauen nicht wohl.

Die jüngste, die 12-jährige Noor, hat neben ihrem Bett eine Kommode. Sie ist ein mangelhafter Ersatz für den fehlenden Schreibtisch. Darauf liegen selbst gemalte Zeichnungen, die sie mit einem schüchternen Lächeln vorstellt. «Das ist ein Cupcake. Und das ein Stück Kuchen. Das ist ein Smoothie», zählt Noor auf, während sie ihre Zeichnungen durchblättert. Gefallen ihr all diese Sachen? «Ja», sagt sie, «aber ich hatte schon sehr lange Zeit keine Süßigkeiten mehr hier.» Deshalb zeichnet sie diese.

Die drei Mädchen leben etwa eine Stunde von der Hauptstadt Athen entfernt. Zwischen Felsen, ausgedörrten Feldern und einer Industriebaustelle erhebt sich das Containerdorf aus dem kargen Land. Teile des Camps sind mit einer drei Meter hohen Betonwand umgeben. Davor wurde Stacheldraht gespannt.

Hier kann man sich nicht wohlfühlen. Das findet auch die 17-jährige Maryam. «Wir möchten zu unserer Mutter», sagt sie sehr entschieden. Es gebe in dem Camp nur schlechtes Essen, kaum Abwechslung und gerade für sie als junge Frauen sei es unter den Lagerbedingungen schwer. Hier leben sie in der Obhut ihrer Tante. Ihre Mutter war vor drei Jahren nach Deutschland aufgebrochen und wollte die Töchter nachholen. «Wir dachten, es dauert ein paar Monate, bis wir zu ihr können», erinnert sich Maryam. Sie wirkt, als könne sie es sie bis heute nicht fassen, dass daraus drei Jahre geworden sind. «Aber wir verstehen, dass sie gegangen ist.» Der Weg nach Deutschland sei sehr gefährlich, sagt Maryam. Ihre Mutter hätte sich für sie geopfert.

Ob sie sich noch an den Abschied von ihrer Mutter erinnern können? Bei dieser Frage fängt Noor an, nervös zu lachen und versteckt sich hinter ihrer Schwester. «Wir können davon nicht erzählen», meint Maryam. Sie blickt starr vor sich hin. Es tue ihnen zu sehr weh. Dann zitiert sie ein arabisches Sprichwort, um ihre Gefühle auszudrücken: «Selbst die Steine haben angefangen zu weinen.

Über 3000 Kilometer entfernt sitzt Rukan O. in Düsseldorf auf einer Couch in einem schmucklosen Raum. Sie blickt aus dem Fenster, ihre Augen sind feucht, aber es kommen keine Tränen. »Ich habe in den letzten Monaten so viel geweint, da sind kaum noch welche«, sagt die 32-Jährige mit monotoner Stimme. Sie hat es vor drei Jahren nach mehreren Monaten von Griechenland nach Deutschland geschafft, ihre Kinder blieben zurück. »Das war das Schwerste, was ich jemals getan habe.« Die Familie stammt ursprünglich aus der syrischen Stadt Aleppo. Der Bürgerkrieg und ein tyrannischer Ehemann zwangen die Mutter und ihre drei Töchter zuerst in die südlich von Aleppo gelegene Stadt Homs nahe der Grenze zum Libanon. Sie flüchteten von dort über die Türkei nach Griechenland. »Ich wollte eine Zukunft für meine Töchter«, erzählt Rukan. Sie wollten studieren und in Frieden aufwachsen.

Aber in Griechenland erwartete die Familie die Hölle. Sie landete in dem berüchtigten Camp Moria auf der Insel Lesbos. Die Familie musste monatelang in einem Zelt leben. Besonders schwer war es im Winter. Für die Geflüchteten gab es kaum Essen und die medizinische Versorgung war mangelhaft. Sie musste ihre Kinder mehrfach vor sexuellen Übergriffen bewahren, berichtet Rukan mit schwacher Stimme. Dann bricht sie auf der Couch zusammen und vergräbt das Gesicht in ihren Händen.

»Ich wollte meinen Kindern den Weg nach Deutschland ersparen«, sagt die Frau. Dann fließen doch ein paar Tränen ihre Wangen herunter. »Es ist gefährlich und kostet viel Geld.« Spätestens nach sechs Monaten wollte sie die Töchter nachholen, doch die Behörden machten ihr einen Strich durch die Rechnung.

Juristischer Kampf um die Kinder

Günter Burkhardt erfährt nicht zum ersten Mal von einem solchen Schicksal. Der Geschäftsführer des Vereins Pro Asyl betreut diese Fälle. »Die Frauen haben die Wahl zwischen Pest und Cholera«, erklärt er. Schutzsuchende Familien würden zwar Europa erreichen, »aber dann sind sie noch nicht in Sicherheit«. Griechenland, das in den meisten Fällen das erste Land in der EU für Geflüchtete ist, biete kein menschenwürdiges Leben. Aus diesem Grund würden viele versuchen, in einen Staat zu gelangen, der Menschenrechte achte, beispielsweise Deutschland.

»Das bedeutet für diese Menschen, dass sie über den Balkan kommen müssen. Dort werden Menschen attackiert, zurückgeprügelt, es gibt Pushbacks, das sind Jagdszenen«, listet Burkhardt auf. Mit Pushbacks wird das Zurückdrängen von Migranten von den Grenzen ihres Ziel- oder Transitlandes bezeichnet. »Eins ist sicher, es ist extrem gefährlich für Geflüchtete, auf diesem Weg nach Deutschland zu kommen, gerade für Kinder«, sagt Burkhardt.

Rukan hat in Deutschland als erstes bei der Ausländerbehörde den Familiennachzug für ihre Töchter beantragt. Anstatt Unterstützung zu bekommen, musste sie sich Vorwürfe anhören. »Sie fragten mich schockiert, wie ich meine Kinder zurücklassen könnte«, erzählt Rukan, »und sagten, ich sei selbst schuld, dass meine Töchter nicht bei mir seien.« Dann sei sie fast hinausgeworfen worden. »Sie meinten zu mir, sie würden mir nicht helfen, meine Töchter nachzuholen.« Sie zahle einem Anwalt jedem Monat Geld, aber »der hat seit einem Jahr nichts mehr gemacht«. In ihrer Stimme schwingt Verzweiflung mit. Sie muss sich ständig wiederholen, weil sie vergisst, was sie bereits gesagt hat. Die Jahre des Kampfes haben sie gezeichnet.

Keine Hilfe in Deutschland

Günter Burkhardt macht auch die inzwischen abgelöste Bundesregierung unter Führung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für diese Situation verantwortlich. »Bis zur Änderung der Gesetze der Großen Koalition war es für subsidiär Geschützte möglich, ihre Familie nach Deutschland zu holen. Das ist aber seither ausgehebelt worden.« 2018 trat der neue Paragraph 36 des Aufenthaltsgesetzes in Kraft. Damit verloren Geflüchtete, die wie Rukan O. unter den subsidiären Schutzstatus fallen, den Anspruch auf Familiennachzug. Seither dürfen generell nur maximal 1000 Personen überhaupt nach Deutschland nachziehen.

Im Fall Rukan O. verlangte die Behörde die Zustimmung des Vaters zum Nachzug der Kinder. Der war aber verschollen und die Zustimmung damit über lange Zeit nicht möglich. Nachdem er ausfindig gemacht wurde, soll er für die Zustimmung Geld verlangt haben, wie Rukan berichtet. Die danach erteilte Zustimmung wäre von der Behörde aber nicht akzeptiert worden – das ist der Status quo. Der Anwalt in Griechenland, berichtet Rukan, habe irgendwann resigniert. Nachdem er alles probiert hatte, soll er den Töchtern gesagt haben: »Deutschland will euch nicht haben.«

»Will man die Töchter auf Dauer in einem Elendscamp festsetzen?«, fragt Burkhardt sarkastisch. »Die Kinder gehen in solch einer Situation zugrunde«, warnt er. Deshalb müsse das Gesetz wieder geändert werden, damit subsidiär Geschützte in Zukunft wieder ihre Familie nachholen könnten. Außerdem sollten deutsche Behörden alle Spielräume nutzen, »um in solchen dramatischen Härtefällen eine Lösung zu finden«.

Am Abend telefonieren die Töchter mit ihrer Mutter. Es ist ein tägliches Ritual. »Ich werde sonst verrückt, wenn ich nichts von ihnen höre«, sagt Rukan. Die Töchter erzählen vom Tag. Ihre Mutter erkundigt sich, ob es allen gut geht. Es gibt sowohl in Griechenland als auch in Deutschland nicht viel Neues. Am Ende fließen wieder Tränen, als die Mutter sagt, sie wünsche sich nichts mehr, als die Kinder endlich zu sich zu holen. Allen fällt es schwer aufzulegen. »Wenn wir sie wiedersehen«, sagt Maryam danach, »wollen wir uns in ihre Arme kuscheln. Für mindestens ein Jahr.« Dann kullert noch eine Träne ihre Wange herunter.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.