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»Dazwischen stehe ich«
Thüringens Bildungsminister Helmut Holter verteidigt seinen umstrittenen Kurs in der Pandemiebekämpfung
Die Situation an den Schulen in Thüringen ist unübersichtlich: Erst sollte strikt am Präsenzunterricht festgehalten werden, dann gab es Pläne für Distanzunterricht, nun findet aber zumeist doch wieder regulärer Unterricht statt; die Bildungsstaatssekretärin wurde entlassen, und es finden endlose Debatten über den richtigen oder falschen Infektionsschutz für Schüler statt. Herr Holter, Sie stehen seit Monaten wie kein anderer Minister der Thüringer Landesregierung im Kreuzfeuer. Haben Sie noch nie daran gedacht, hinzuschmeißen?
Ich habe noch nie an Rücktritt gedacht, auch wenn manchmal die Frage an mich herangetragen wird, wie lange ich mir das Amt noch antun will. Denn es stimmt zwar: Ich bekomme ständig harte Kritik. Aber häufig kommt dann noch der Nachsatz: »Mit Ihnen möchte ich nicht tauschen!« Außerdem fühle ich mich den Schülerinnen und Schülern, den Eltern, den Lehrerinnen und Lehrern, den sonderpädagogischen Fachkräften und allen anderen, die an den Schulen arbeiten, verpflichtet. Viele von ihnen sagen mir übrigens auch, der Kurs, den wir in Thüringen eingeschlagen haben, sei richtig. Es ist deshalb jetzt wichtig, Ruhe zu bewahren und Nervenstärke zu zeigen. Für mich gilt: Ich stehe an der Spitze und wanke nicht!
Politisch haben Sie jüngst aber eine grandiose Wankbewegung vollführt. Monatelang haben Sie auf Präsenzunterricht an den Thüringer Schulen gepocht. Am 22. Dezember wollten Sie dann plötzlich Distanzunterricht …
Wegen Omikron.
Wirklich nur wegen Omikron? Gab es da nicht auch noch andere Beweggründe?
Nein, es war wirklich nur wegen Omikron. Es gab am Wochenende vor dem 22. Dezember die erste Beratung des Expertenrates der Bundesregierung. Dann kam am 21. Dezember auch noch das Robert Koch-Institut und mahnte eindringlich scharfe Kontaktbeschränkungen wegen Omikron an. Und dann sagte noch der wissenschaftliche Beirat der Landesregierung uns: Wir fahren sehenden Auges gegen die Wand. In so einer Lage muss man rechtzeitig bremsen.
Aber schon lange vor der Omikron-Variante war doch klar, dass auch Kinder nach einer Covid-19-Erkrankung manchmal ins Krankenhaus müssen und dass sie an Langzeitfolgen leiden können. Und bei den hohen Infektionszahlen summieren sich selbst prozentual wenige solcher Fälle zu beachtlichen absoluten Zahlen. Warum hat sie Omikron dann so beeindruckt?
Die Daten zum Beispiel aus den USA, aus Großbritannien, aus Frankreich zeigen uns doch, dass Omikron eine größere Gefahr für Kinder und Jugendliche ist - bis hin zu mehr Krankenhauseinweisungen - als die Alpha- oder Delta-Variante des Virus und dass sich Omikron viel schneller ausbreitet als andere Varianten. Das ist eine neue Qualität. Auf die haben wir reagiert. Deshalb haben wir gesagt: Wir brauchen einen harten, aber kurzen Einschnitt an den Schulen über einen 14-tägigen Sicherheitspuffer mit Distanzunterricht, um vor die Welle zu kommen.
Es soll also wirklich Zufall sein, dass Sie kurz vor der Entscheidung für Distanzunterricht Ihre Staatssekretärin Julia Heesen rausgeworfen haben, die sich vehement gegen Distanzunterricht gestemmt hat?
Die Entscheidungen des Bildungsministeriums, die in den vergangenen Monaten getroffen worden sind, haben Frau Heesen und ich immer diskutiert und dann auch gemeinsam verantwortet. Das wäre bei der Entscheidung für den Distanzunterricht sicher nicht anders gewesen.
Heesen musste nach einer umstrittenen Serie von Twitter-Nachrichten gehen, in denen sie zunächst auch das Auftreten von Long-Covid bei Kindern geleugnet hatte. Waren die Tweets der Anlass oder die Ursache für ihren Rauswurf?
Der Anlass.
Was war die Ursache?
Die Art und Weise, wie Frau Heesen ihr Amt ausgeführt und wie sie kommuniziert hat - sowohl mit den Kolleginnen und Kollegen im Ministerium und in den Schulämtern als auch mit Partnern etwa in den Kommunen. In einer Kabinettssitzung am 14. Dezember zum Beispiel, an der auch der Gemeinde- und Städtebund teilgenommen hatte, gab es harte Kritik an der Kommunikation von Frau Heesen. Der Ministerpräsident und ich haben uns dann in der Sitzung noch für Frau Heesen entschuldigt. Ich habe später noch mit dem Präsidenten des Gemeinde- und Städtebundes telefoniert und die Sache wieder geradegezogen. Aber so ein Kommunikationsstil geht eben nicht. Das durchbricht mein Prinzip, Sachen gemeinsam zu beraten und umzusetzen. Wir sitzen im Bildungsbereich alle zusammen in einem Boot.
Es gab vor allem im Spätsommer Geraune auf den Fluren im Landtag, Sie und Frau Heesen würden »guter Polizist, böser Polizist« spielen. Sie in der Rolle des Netten …
Ein solches Rollenspiel hat es nicht gegeben. Wir sind einfach unterschiedliche Charaktere, die ein unterschiedliches Verständnis von Politik und vom Umgang mit anderen Menschen haben.
Trotzdem gelten Sie bei manchen Schulleitern als der nette Onkel, der zuhört. Aber es folgt aus den Gesprächen kein konkretes Handeln. Jetzt ist Heesen weg. Ändert sich was daran?
Es hat sich schon geändert, indem wir zwischen Weihnachten und Neujahr die Entscheidung getroffen haben, dass die Schulen mehr Freiräume bekommen und sie es sind, die festlegen, ob sie in den Distanzunterricht gehen, in den Wechselunterricht, ob sie mit festen Gruppen arbeiten. So etwas hatte ich schon öfter angekündigt. Und ich gebe zu: Auch in diesem Punkt gab es unterschiedliche Auffassungen zwischen Frau Heesen und mir.
Aus Ihrer Sicht ist Distanzunterricht keine Schulschließung, richtig?
Das ist in der Tat meine Überzeugung. Natürlich ist der Präsenzunterricht die beste Art und Weise zu unterrichten. Aber in einer Pandemie kann es nötig sein, dass Kinder auch im Distanzunterricht beschult werden. Das geht natürlich nicht dauerhaft, weil in der Schule ja nicht nur Unterrichtsstoff vermittelt wird, sondern auch soziale Kompetenzen, was oft außerhalb des eigentlichen Unterrichts passiert. Aber temporärer Distanzunterricht ist aus meiner Sicht auch geeignet, den Bildungsauftrag zu erfüllen.
Dieser Idee sind Sie dann ja am 22. Dezember gefolgt und sprachen sich für Distanzunterricht aus - nur vergaßen Sie dabei zu erwähnen, dass sich das Vorhaben nur würde umsetzen lassen, wenn der Bund die Regeln sehr schnell ändert. War das ein Fehler?
Diesen Vorbehalt nicht zu kommunizieren, war ein Fehler, ja. Aber ich konnte mir ehrlicherweise auch nicht vorstellen, dass der Bund nicht auf die Vorschläge seines Expertenrates und des Robert Koch-Instituts eingehen würde. So ist es nun gekommen. Deshalb haben wir uns dann zwischen Weihnachten und Neujahr entschieden, die Schulen selbst über Distanzunterricht entscheiden zu lassen. Etwas anderes war rechtlich nicht möglich.
Diese Entscheidungskompetenz nutzen die meisten Schulen in Thüringen nun, um in Präsenz ins neue Jahr zu starten - und damit anders als Sie das noch vor Weihnachten wollten. Frustriert Sie das?
Ich finde es vollkommen in Ordnung. Omikron hat noch nicht so zugeschlagen, wie das zu befürchten war. Die Schulleiter haben das aktuelle Infektionsgeschehen in ihren Schulen und auch in deren Umfeld evaluiert, und die Rückmeldungen, die es gab, lassen einen Start in Präsenz in vielen Fällen zu - wobei es ja nicht so ist, dass alle Schüler wieder überall gleichzeitig in die Schulen gehen. Es gibt auch Schulen, die im Wechselunterricht starten oder in festen Gruppen. Außerdem schließt der Start im Präsenzunterricht nicht aus, dass bei einer sich lokal verschärfenden Infektionslage auch noch auf andere Unterrichtsformen zurückgegriffen wird. Die Schulleitungen werden jetzt an jedem Donnerstag entscheiden, wie es bei ihnen ab Montag weitergeht Woche für Woche. Wir fahren weiterhin auf Sicht.
Warum wird in Thüringer Schulen nur zweimal pro Woche getestet? Andere Bundesländer schaffen drei Tests pro Woche, manche sogar fünf.
Im Spätherbst gab es eine Sitzung der Kultusminister mit Wissenschaftlern. Die haben uns damals gesagt: Die Häufigkeit des Testens ist nicht entscheidend, wichtig ist, dass überhaupt getestet wird. Auf diese Aussage hin haben wir in Thüringen ein Testsystem aufgebaut und auch eine Lieferkette, über die wir Bestellungen von Coronatests bis zu den Winterferien ausgelegt haben. Wenn wir jetzt flächendeckend öfter als zweimal pro Woche testen würden, müssten wir schnell weitere Tests nachbestellen. Dafür brauchen wir aber nicht nur die Freigabe von Geld durch das Finanzministerium und den Haushaltsausschuss des Landtages. Ich darf daran erinnern, dass wir in vorläufiger Haushaltsführung sind, es gibt noch keinen Landeshaushalt für 2022.
Außerdem müssten wir diese zusätzlichen Tests am Markt erst einmal finden. Tests sind bekanntlich gerade eine ziemlich gefragte Ware, und sie werden auf absehbare Zeit dadurch nicht leichter zu bekommen sein, dass in China - wo die Tests in der Regel hergestellt werden - Ende Januar und Anfang Februar das wirtschaftliche Leben zum Erliegen kommt, weil dort Neujahr gefeiert wird. Kurzum: Wir haben derzeit nicht die materiellen Voraussetzungen, um mehr als zweimal pro Woche zu testen.
Wenn das mit den Tests so schwierig ist: Warum setzen Sie dann nicht einfach die Präsenzpflicht aus?
Einerseits gibt es ja bei uns verschiedene Möglichkeiten, Schüler im Einzelfall von der Präsenzpflicht zu befreien; dann zum Beispiel, wenn sie selbst zu einer Corona-Risikogruppe gehören oder im Familienkreis Menschen leben, die zu einer Risikogruppe gehören. Andererseits bin ich der Überzeugung, dass Kinder und Jugendliche grundsätzlich in die Schulen gehören, weil der Präsenzunterricht die beste Form der Beschulung ist und die Kontakte von Kindern und Jugendlichen zu ihren Altersgenossen wichtig für ihre soziale Entwicklung sind.
Aber Sie haben vorhin auch gesagt, in einer Pandemie sei Distanzunterricht »geeignet, um den Bildungsauftrag zu erfüllen«.
Wenn es um kurzzeitigen Distanzunterricht geht. Zudem gibt es noch ein weiteres Argument gegen das Aussetzen der Präsenzpflicht: Wenn wir über lange Zeit hinweg Schüler sowohl in den Schulen als auch zu Hause beschulen müssten, wäre das eine weitere Doppelbelastung für unsere Lehrerinnen und Lehrer. Das wäre nicht zu stemmen.
Damit beschneiden Sie aber in erheblichem Maße das Recht von Eltern zu sagen: Mir ist die Frage, ob sich mein Kind mit Corona infiziert, wichtiger als die Frage, ob es eine Vier in Mathe hat.
Diese Abwägung vorzunehmen, ist immer eine extrem schwierige Gratwanderung.
Geht es hier wirklich um eine Abwägung? Sie und andere Kultusminister argumentieren häufig so, als seien das Recht auf Gesundheit und das Recht auf Bildung wie zwei Schalen einer Waage. Tatsächlich aber kann man sich doch nur bilden, wenn man gesund ist. Wer krank ist, hat ganz andere Probleme als Mathematik.
Das ist grundsätzlich richtig. Und deshalb haben wir ja die Möglichkeit zur Befreiung vom Präsenzunterricht, etwa für Kinder mit Vorerkrankungen. Aber bei einem gesunden Kind gibt es doch keinen Grund, ihm seine Bildungschancen zu verwehren, wenn man gleichzeitig viel dafür tut, die Ansteckungsgefahr so gering wie möglich zu halten.
Mir ist durchaus bewusst, dass es ganz unterschiedliche Sichtweisen dazu gibt. Es gibt auf der einen Seite die, denen die Hygienemaßnahmen viel zu streng sind. Dann gibt es diejenigen, denen sie nicht streng genug sind. Dazwischen stehe ich. So, wie übrigens auch noch eine dritte Gruppe, die häufig übersehen wird: Jene Eltern, Schüler und Lehrer, die zwar Details unserer Coronapolitik kritisch sehen, die getroffenen Maßnahmen aber grundsätzlich unterstützen. Ich würde mir wünschen, dass diese dritte Gruppe noch viel vernehmbarer wäre als bisher.
Stimmt, Sie stehen dazwischen. Deshalb noch mal die Frage: Sie wollen da wirklich stehen bleiben?
Wenn es nach mir geht, ja. Ich habe mein Wort gegeben, dass ich bis 2024 Bildungsminister in Thüringen bleibe.
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