- Wirtschaft und Umwelt
- Genossenschaften
Fenster in eine andere Welt
Gisela Notz skizziert Chancen einer »neuen Genossenschaftlichkeit« beim Umbau zu einer nachhaltigen Lebensweise
Als »Kinder der Not« ermöglichten die ersten Genossenschaften im 19. Jahrhundert eine solidarische Förderung ihrer Mitglieder. Statt vom Profitstreben großer Kreditinstituts abhängig zu sein, wurden Volksbanken gegründet, um Landwirten mit günstigen Darlehen den Einkauf von Saatgut zu ermöglichen. Und statt Mieterhöhungen ausgeliefert zu sein, schlossen sich Mieter zu zusammen, um Wohnraum zu schaffen.
Genossenschaften waren und sind heute noch in der bundesdeutschen Wirtschaft ein wichtiger Faktor. Aktuell gewinnen die etwa 2000 Wohnungsgenossenschaften mit mehr als 2,2 Millionen Wohnungen an Bedeutung. Da sie laut dem Berliner Mieterverein als »Garanten für bezahlbare Mieten und stabile Nachbarschaften« betrachtet werden können, wäre ihr Ausbau angesichts der akuten Wohnungsnot dringend geboten.
Dennoch sei es schade, dass sich viele Menschen unter dem Begriff Genossenschaften bisher nur Raiffeisenbanken und bestenfalls Wohnungsgenossenschaften vorstellen können, sagt die Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz. In ihrem neuen Buch will sie deshalb einen umfassenden Überblick über die Genossenschaftsbewegung geben. Bereits die ersten Genossenschaften waren »mehr als ein Instrument zur gemeinschaftlichen Nothilfe gegen Existenzangst und Armut«. Unabhängig von der Rechtsform sei gemeinschaftliches Wirtschaften »eine Form kollektiven Lebens und Arbeitens gegen die herrschende neoliberale Ellbogengesellschaft«, so Notz.
In Genossenschaften könne man »durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb den Einzelnen und die Gemeinschaft fördern«. Gemeinsam lasse sich mit Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung mehr erreichen als alleine. Genossenschaften hätten die Chance für eine »gelebte Sozialutopie«, wenn sie nicht nur nach den ökonomischen Vorgaben des Marktes funktionieren, sondern die menschlichen Bedürfnisse ihrer Mitglieder in den Mittelpunkt stellen.
Notz greift in die Geschichte der Genossenschaftsbewegung zurück - mit Bezug auf Gründungspersönlichkeiten und mit Positionen von Karl Marx, Rosa Luxemburg, August Bebel oder Gustav Landauer. Und sie beschreibt das Entstehen der ersten Produktiv-, Konsum- und Wohnungsgenossenschaften, verbindet anschaulich Theorie und Praxis. Zudem beleuchtet sie nicht nur Erfolgsgeschichten, sondern geht auch den Ursachen einiger gescheiterter Projekte nach.
An anderer Stelle geht es um die Übernahme der Genossenschaften im Faschismus und um deren Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Schwerpunkt sind jedoch die »neuen Genossenschaften« und ihre aktuelle Bedeutung - vor allem bezogen auf die Gründungswelle nach der Gesetzesnovellierung vor 15 Jahren, die einige Erleichterungen brachte. So hat sich die Bürokratie für kleinere Unternehmen reduziert, die Gründung von Sozial- und Kulturgenossenschaften wurde ermöglicht.
Heute sind Genossenschaften in Deutschland mit knapp vier Millionen Arbeitsplätzen ein unersetzliches Standbein der Wirtschaft. Vor allem die in den letzten Jahren neu gegründeten Unternehmen mit dieser Rechtsform stellen soziale und ökologische Kriterien in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit.
Neben Energie- und Erzeuger-Verbrauchergenossenschaften beleuchtet die Autorin die zunehmende Vielfalt genossenschaftlicher Tätigkeit. Aus den Bereichen Frauen-, Schul-, Medien- und Sozialgenossenschaften stellt sie anhand eigener Erfahrungen Beispiele vor. Das reicht von der Weiberwirtschaft und Schokofabrik in Berlin über die Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Schule in Wetzlar sowie die »Taz«- und »Junge Welt«-Genossenschaften bis zur Neugründung der Karuna eG in Berlin. Die versteht sich als Sozialgenossenschaft zur Unterstützung junger Obdachloser, die von den Corona-Maßnahmen besonders betroffen sind.
Neben dem Bedürfnis vieler Menschen nach Gemeinschaft spiele bei der Wahl der Rechtsform einer eingetragenen Genossenschaft (eG) vor allem die Mitbestimmung eine Rolle, beobachtet Notz die jüngere Entwicklung. Sie will deutlich machen, »dass es immer und zu allen Zeiten ein Potenzial nicht anpassungsbereiter Menschen gab, die nicht nur Protest äußerten, sondern Handlungskonzepte entwickelten, die sie in einem kollektiven Prozess umsetzten«. Konsequenterweise erörtert sie in ihren Schlusskapiteln den »utopischen Gehalt der neuen Genossenschaften« als Teil einer Solidarischen Ökonomie. Wobei damit egalitär-partizipative Arbeits- und Organisationsformen in Verbindung mit einem ethisch orientierten Wirtschaftsstil gemeint sind.
Dabei nimmt sie Bezug zum Slogan »Weniger arbeiten, anders arbeiten, besser leben«, mit dem die Alternativökonomie-Bewegung der 1970er Jahre die Grundlage für eine »neue Genossenschaftlichkeit« legte. Zudem erinnert sie an ähnliche Entwicklungen etwa nach dem Ersten Weltkrieg, als in der sozialrevolutionären Rätebewegung Ideen der Arbeiter*innen- und Mieter*innenräte diskutiert wurden.
Notz versteht die »Entwicklung eigenverantwortlicher Arbeits- und Lebenskulturen« als uralte und gleichzeitig brandaktuelle Idee, die es neben der kapitalistisch-patriarchalischen Wirtschaft zu etablieren gelte - und zwar »bevor durch eine Umgestaltung die allgemeinen Bedingungen dazu geschaffen« seien. Angesichts der aktuellen Krise hofft sie auf eine verstärkte Zusammenarbeit von Gewerkschaften, Genossenschaften, der globalisierungskritischen und Klimabewegung, um deren Erfahrungen zu verknüpfen.
Es gehe um nicht mehr und nicht weniger als um die »Lebenssicherung für alle Menschen und um die Verantwortung für das ganze Leben«. Genossenschaften und ähnlich strukturierte Betriebe und Einrichtungen könnten mit ihrer solidarischen Arbeitsweise das »Fenster in eine andere Welt« sein, hofft die Autorin. Bleibt hinzuzufügen, dass eine »neue Genossenschaftlichkeit« zur einigenden Perspektive werden könnte, um die derzeit drohende Spaltung der Gesellschaft zu überwinden.
Gisela Notz: Genossenschaften - Geschichte, Aktualität und Renaissance. Schmetterling-Verlag, 264 S., kart., 16,80 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.