»Wir wollen ein Sondertribunal«

Menschenrechtsaktivistin Joumana Seif hat den Prozess in Koblenz begleitet und hebt seine Wichtigkeit für alle Syrer hervor

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 5 Min.
Die syrische Aktivistin Wafa Mustafa sitzt aus Protest vor dem Oberlandesgericht in Koblenz zwischen Bildern von Opfern des syrischen Regimes und hält ein Bild ihres Vaters. AFP/Thomas Lohnes
Die syrische Aktivistin Wafa Mustafa sitzt aus Protest vor dem Oberlandesgericht in Koblenz zwischen Bildern von Opfern des syrischen Regimes und hält ein Bild ihres Vaters. AFP/Thomas Lohnes

Sie sagen, dass der Al-Khatib-Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz, der nun endet, besonders für die syrische Gemeinschaft in Deutschland wichtig ist. Warum?
Es ist das erste Mal, dass diese Verbrechen vor ein Gericht kommen – und diese Verbrechen werden in Syrien seit einem halben Jahrhundert begangen. Das ist weltweit der allererste Prozess gegen Folter, Tötungen, sexuelle Gewalt in Haftanstalten des Assad-Regimes. Nicht nur deswegen ist der Prozess wichtig, sondern auch weil diese Verbrechen weiter begangen werden.

Interview
Joumana Seif begann ihre Arbeit als Menschenrechtsaktivistin im Jahr 2001. Als Anwältin unterstützte sie demokratische Bewegungen in Syrien und vertrat politische Gefangene. 2012 verließ sie Syrien und engagiert sich seitdem für Frauenrechte. Seit Mai 2017 arbeitet sie für das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin und ist verantwortlich für die Unterstützung der Klägerinnen und Zeugen, die vom ECCHR im Al-Khatib-Prozess unterstützt werden. Mit ihr sprach Cyrus Salimi-Asl.

Wir Syrerinnen und Syrer, die Überlebenden und die ganze syrische Gemeinschaft, die Familien, wir spüren eine Verpflichtung, dass unsere Stimmen von der ganzen Welt gehört werden, um zu berichten, was geschehen ist. Ich habe von Überlebenden selbst gehört, dass dieser Prozess nicht nur für sie selbst und ihren Wunsch nach Gerechtigkeit durchgeführt wird, sondern für all die Menschen, die getötet und gefoltert wurden, die noch unter den Folgen leiden, die gewaltsam verschwunden sind bis heute.

Welche Bedeutung hat der Urteilsspruch?
Wir wollen ein Urteil als rechtsgültiges Dokument und Beweis. Dabei geht es nicht nur um die Vergangenheit, es geht auch um die Gegenwart. Wir wollen diese Anerkennung als Basis für die Zukunft, um unseren Kampf für Gerechtigkeit fortzusetzen. Eine Überlebende sagte dies in ihrer Abschlusserklärung vor Gericht: »Dieser Prozess hat meinen Glauben an Gerechtigkeit wiederhergestellt.«

Das ist notwendig, denn man kann etwas erreichen, wenn man dafür kämpft. Das ist unsere Pflicht. Ich glaube ganz fest daran. Wir haben nicht viele Optionen, aber wir kämpfen weiter für Gerechtigkeit, auch mit Hilfe von Menschen, die an die Menschenrechte glauben. Wir als Syrerinnen und Syrer glauben alle, dass es ohne Gerechtigkeit keinen dauerhaften Frieden geben wird. Das betrifft nicht nur eine Minderheit, rund 1 250 000 Menschen in Syrien haben diese bitteren Erfahrungen machen müssen.

Glauben Sie, dass solche Prozesse dabei helfen können, den Friedensprozess für Syrien voranzubringen?
Wir wollen diese Verbrechen vor Gericht beweisen, so dass sie im Urteilsspruch benannt werden. Wir fordern alle demokratischen Staaten und die internationale Gemeinschaft auf, etwas Konkretes zu tun für Gerechtigkeit und auf eine echte politische Lösung zu drängen, auf einen Übergang zu einem demokratischen Staat. Wir wissen, dass der Weg dorthin noch lang sein kann, aber wir werden nicht aufgeben. Die Politik mag sich ändern, aber es ist wichtig zu kämpfen. Ich glaube, dass wir etwas erreichen können.

Wenn wir fünf Jahre zurückblicken – als das Instrument der universellen Gerichtsbarkeit noch nicht zur Debatte stand und das European Center for Constitutional and Human Rights ECCHR begonnen hat, sich damit zu befassen – haben viele gesagt, dass es sehr schwierig sei, das Weltrechtsprinzip anzuwenden. Heute können wir sehen, dass ein großer Schritt vollzogen wurde.

Dem ECCHR, zusammen mit syrischen Nichtregierungsorganisationen, Aktivisten und der syrischen Zivilgesellschaft, ist es gelungen, dieses wichtige Thema auf dem Tisch der internationalen Gemeinschaft zu halten. Von der Uno oder der EU hört man heute die Selbstverpflichtung, sich für die Verantwortlichkeit von Verbrechen und für Gerechtigkeit einzusetzen. Ich bin zuversichtlich, dass das auch einen weiteren gerichtlichen Weg öffnen wird für die Syrer, vielleicht für ein Sondertribunal, vielleicht auch für den Internationalen Strafgerichtshof ICC. Das Assad-Regime besteht nicht ewig, es steht gegen jede Humanität und gegen die Werte der Menschenrechte.

Mit dem Urteilsspruch wollen wir auch denen den Weg versperren, die dem Assad-Regime dabei helfen, wieder in die internationale Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Das Urteil ist ein Rechtsdokument, das sagt, dass es nicht akzeptabel ist, die Beziehungen zu diesem Regime zu normalisieren: Es ist bewiesen, dass diese Verbrechen begangen wurden als Teil einer systematischen und verbreiteten Politik gegen Zivilisten.

Wie sollte sich die internationale Gemeinschaft gegenüber Syrien verhalten?
Sie sollte konkrete Schritte unternehmen für Gerechtigkeit. Wir wollen ein Sondertribunal, um diese Verbrechen abzuurteilen. Die Syrerinnen und Syrer verdienen das. Wir wollen, dass strenge Regeln gesetzt werden, damit das Assad-Regime nicht wieder Teil der internationalen Gemeinschaft wird. Und wir erwarten starke Signale an die ganze Welt, dass solche Diktaturen nicht mehr länger toleriert werden, weil alle diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit gerichtet sind, also gegen jedermann auf der Welt.

Was waren die größten Probleme bei der Vorbereitung des Prozesses? Die Beweise?
Beweismittel lagen in großer Anzahl vor. Die syrische Zivilgesellschaft und die Aktivisten waren seit Beginn der Revolution sehr engagiert, so dass es eine Masse an Dokumentationen gibt. Es gibt viele Überlebende hier in Deutschland. Das Problem ist, dass das Regime weiter an der Macht ist und dass die Überlebenden Angst vor Rache haben. Unsere größte Sorge war, wie wir die Zeugen schützen können und wie wir vorgehen können, ohne irgendjemandem zu schaden.

Der Schutz der Überlebenden hatte oberste Priorität. Viele Menschen haben uns kontaktiert und wir mussten den Überlebenden die möglichen Konsequenzen genau erklären. Ein paar hatten Angst um ihre Familie in Syrien, und wir haben ihnen abgeraten, im Prozess auszusagen.

Viele andere waren dagegen sehr mutig und sagten: »Nein, das ist unsere Pflicht.« Trotz des Schmerzes, die Verbrechen mit dem Erinnern noch mal zu erleiden. Das war nicht einfach, auch für die Rechtsanwälte, sich das alles mehrfach anzuhören, die Auswirkungen, die die Verbrechen auf die Menschen hatten und das in ihren Augen zu sehen. Immer wenn ich aus Koblenz zurückkam, fühlte ich mich so müde und ausgebrannt, und ich schätze wirklich den Mut der Überlebenden, die ganze Welt wissen zu lassen, was ihnen geschehen ist.

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