Wenn der dringend benötigte Treppenlift nicht genehmigt wird
was menschen mit behinderung im alltag immer wieder erleben
»Es war ein Albtraum«, erinnert sich Alexandra Becker aus dem nordrhein-westfälischen Dülmen. Monatelang spielte sich ihr gesamtes Leben im Wohnzimmer ab: Sie übernachtete auf dem Sofa neben dem Pflegebett ihres schwer mehrfachbehinderten Sohns Sandro.
Spätestens nach der zweiten Hüftoperation war Becker klar, dass es dem 75 Kilo schweren, schon zuvor gehbehinderten Jugendlichen niemals mehr möglich sein würde, über die Treppe ins Obergeschoss zu gelangen. Dort hat er sein Zimmer und ein behindertengerechtes Bad. Selbst Hochziehen am Treppengeländer und Runterrutschen auf dem Schoß der Mutter ging nicht.
Der rund 38 000 Euro teure Rollstuhltreppendeckenlift war längst vom Facharzt verordnet. Doch die Krankenkasse genehmigte ihn nicht. Alexandra Becker ließ eine Pflegeberatung kommen, schrieb an die Krankenkasse. Ein aufgrund der Akten erstelltes Gutachten des Medizinischen Dienstes (MD) behauptete, die Familie hätte einen Aufzug und bräuchte deshalb keinen Lift, obwohl kein Aufzug existierte. Wieder verging kostbare Zeit. Nach fast einem Jahr Auseinandersetzungen mit der Krankenkasse wurde der Treppenlift schließlich bewilligt.
Viele Eltern von behinderten Kindern könnten ähnliche Geschichten erzählen. Es gibt Familien, die gar keine Hilfsmittel mehr beantragen, weil sie resigniert haben. Die Pflege schwer kranker oder behinderter Kinder verlangt den Eltern viel Kraft ab. Da bleibt oft keine Energie mehr, um für Fußorthesen oder einen zweiten Therapiestuhl für den Kindergarten zu kämpfen.
Betroffene initiierten eine Petition mit 55 000 Unterschriften, die im Mai 2021 dem Petitionsausschuss im Bundestag überreicht wurde. Darin verlangen die Unterzeichner, dass Krankenkassen ärztlich eingeleitete Therapien oder Verordnungen nicht systematisch infrage stellen, sondern übernehmen. Weitere Forderung: Der Medizinische Dienst soll nicht durch fachfremde Gutachter und nur nach Aktenlage über die Gewährung von Hilfsmitteln entscheiden dürfen.
Der sozialmedizinische Beratungs- und Begutachtungsdienst der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung soll sicherstellen, dass die Leistungen der Kranken- und der Pflegeversicherung nach objektiven medizinischen Kriterien allen Versicherten zu gleichen Bedingungen zugutekommen.
Die Krankenkassen seien nicht verpflichtet, den Medizinischen Dienst bei der Hilfsmittelversorgung mit einer Stellungnahme zu beauftragen, weshalb nur ein sehr geringer Teil der jährlich bundesweit rund 19 Millionen verordneten Hilfsmittel zum Medizinischen Dienst kämen.
Der Verein »Hölder-Initiative für Kultur und Inklusion« in Lauffen bei Heilbronn spricht sich für eine »Umkehr der Beweislast« aus: Die Eltern sollten die verordneten Hilfsmittel grundsätzlich von der Krankenkasse erhalten, es sei denn, die Kassen können belegen, dass diese überflüssigerweise verordnet wurden. Wichtig sei außerdem, dass bei schwerbehinderten Kindern oder Kindern mit unheilbaren Erkrankungen die Pflegegrade entfristet würden und nicht immer wieder neu belegt werden müsse, warum das Kind beispielsweise weiterhin Physiotherapie benötigt. epd/nd
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