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- Matthias Brandt am Berliner Ensemble
Blind dem Abgrund begegnen
Matthias Brandt bestreitet am Berliner Ensemble »Mein Name sei Gantenbein« als Soloabend
Im Dezember wurde bei einer Premiere am Deutschen Theater Berlin im Publikum die frisch von ihrem Regierungsamt erlöste Angela Merkel gesichtet. Über dergleichen spricht man am Theater wie in der Kritik gern, es ist eine willkommene Ablenkung von dem sonst lang und breit debattierten Bedeutungsverlust der darstellenden Kunst. Am vergangenen Freitag betrat nun ein paar Straßen weiter, am Berliner Ensemble, ein Kanzlersohn die Bühne. Matthias Brandt, der aus Film und Fernsehen hinlänglich bekannt ist und sich in den letzten Jahren auch als Schriftsteller einen Namen gemacht hat, ist nach mehr als 20 Jahren der Theaterabstinenz wieder bei einem Bühnenspektakel zu erleben.
»Mein Name sei Gantenbein« heißt der Abend, den Brandt als Solo bewerkstelligt. Max Frischs Roman von 1964 wurde dafür in eine überschaubare, 100 Minuten dauernde Fassung gebracht. Frisch hat wie kaum ein anderer Schriftsteller in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Selbstzweifel des Intellektuellen in der bürgerlichen Gesellschaft in seiner Literatur ausgedrückt.
In seinem Prosawerk »Mein Name sei Gantenbein« verfolgt der Schweizer Autor das biografische Spiel seiner Figur. Wer bin ich?, fragt sich der Erzähler, wird sich der Rollenhaftigkeit eines Lebens gewahr - und erlaubt sich also die Rollen zu wechseln. Wer ist er? Enderlin? Swoboda? Sein Name sei Gantenbein. Er befreit sich von der Last, sehen zu müssen, und mimt den Blinden. Eine Rolle, die fast nur Vorzüge hat, insbesondere dann, wenn man ein Blinder ist, der sehen kann. Und den man sehen lässt, weil man ihm glaubt oder auch nur glauben will.
Frisch hat - um es knapp zu halten - einen Roman über die Suche nach der menschlichen Identität in der Gesellschaft geschrieben. Identität, das ist immerhin das Dauerthema unserer Gegenwart, Identitätspolitik der Begriff, der das Feld beschreibt, um das momentan erbittert gekämpft wird. Wer sich nun aber Hoffnungen macht, dass dieser Theaterabend der beunruhigenden Renaissance essentialistischer Denkweisen eine wohltuende Portion Verunsicherung entgegensetzen würde, der wird leider enttäuscht. Hier fehlt jeder Link, der offensiv vom Bühnengeschehen auf das Leben des Publikums zielen würde. Zentral ist bei dieser Inszenierung vor allem der Schauspieler Brandt.
Der Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, hat es sich nicht nehmen lassen, selbst Regie zu führen. Dabei scheint der Begriff Regie etwas hochgestapelt für einen Abend, den ein Schauspieler allein zu bestreiten hat und bei dem es an einem eigentlich notwendigen inszenatorischen Zugriff mangelt.
Matthias Brandt zuzusehen, ist eindrucksvoll. Man hat es hier mit einem zu Recht vielfach gepriesenen und ausgezeichneten Darsteller zu tun. Gekonnt bewegt er sich in dem fast leeren Bühnenraum. Notwendige Requisiten holt er sich lässig aus den ihn umgebenden Schrankwänden. Wenn er sie nicht mehr braucht, wirft er sie in den Orchestergraben. Brandt erzählt mit seiner sonoren Stimme, spricht dann die Figuren, die die Romanhandlung stützen. Er flüstert, schreit und weint. In anderen Worten: Brandt zieht alle Register. Freude sollte aufkommen, wenn ein exzellenter Schauspieler einen herausragend intelligenten Roman wie den von Frisch zu Leben erweckt.
Aber dann passiert das Unvermeidliche: Man begreift, dass hier nichts passieren wird, was man nicht erwartet hätte. Brandt wechselt einmal zu oft das Kostüm auf der Bühne. Beim ersten Mal hatte man vielleicht noch gern dabei zugesehen. Dann wiederholt er die eine lange Pause, die er doch zuvor schon in gleicher Weise zwischen die mit Bedeutungsschwere aufgeladenen Sätze platziert hatte, ein weiteres Mal. Plötzlich fühlt man sich in seinen Beobachtungen angekommen in einem gefährlichen Grenzbereich: zwischen hoher Schauspielkunst und bloßem Manierismus.
Aus Frischs Text wurde jede Pointe rausgekramt. Doch oberflächlicher Humor steht weder dem Jahrhundertautor Frisch noch Brandt gut zu Gesicht. Möglichst schmerzlos wird hier über die Bühne gebracht, was doch eigentlich nur erzählen soll von Schmerz und Bruch und Widerstand. Auf Kosten intellektueller Tiefe hat man sich entschieden, leicht verdauliche Unterhaltung zu produzieren.
Nächste Vorstellungen: 18., 19., 23. und 24.1.
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