- Politik
- Russland
Antrittsbesuch in frostigen Krisenzeiten
Annalena Baerbock wirbt bei ihrem ersten Treffen mit Sergej Lawrow für baldige Friedensgespräche
Woran Sergej Lawrow bei seinem ersten Treffen mit Annalena Baerbock (Grüne) eigentlich dachte, verriet ein kleiner, aber bezeichnender Versprecher zu Beginn des Antrittsbesuchs der neuen deutschen Außenministerin in Moskau. Man strebe einen »konstruktiven Zustand der russisch-amerikanischen Beziehungen« an, erklärte der für seine Professionalität bekannte Chefdiplomat in seinem an Baerbock gerichteten Grußwort auf Russisch. Die Dolmetscherin des Außenministeriums bemerkte Lawrows Lapsus indes sofort und korrigierte ihren Chef ohne mit der Wimper zu zucken: Es gebe keine Alternative zu einem guten Verhältnis zwischen Moskau und Berlin, übersetzte sie ins Deutsche. Der Kreml sei an »konstruktiveren Beziehungen zu der neuen Regierung in Berlin« interessiert.
Im russischen Internet macht der Versprecher des langgedienten Außenministers sofort die Runde. Kremlnahe Polittechnologen wie Marat Baschirow - unter anderem als Vorsitzender des Ministerrates der nicht anerkannten Lugansker Volksrepublik bekannt geworden - hielten Lawrows Aussagen für keinen Versprecher, sondern für eine besonders kunstvoll verpackte Anspielung darauf, dass Deutschland im »Fahrwasser der USA« schwimme und die Grünen-Politikerin eine »unselbstständige Ministerin eines unselbstständigen Staates« sei, so Baschirow in seinem Telegram-Kanal.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Ob Versprecher oder Anspielung: Baerbock schien die Wortverwechselung nicht zu bemerken und erklärte zum Auftakt der Gespräche, dass Berlin ein Interesse an »stabilen« Beziehungen zu Russland habe. Wie bei ihrem Besuch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew am Tag zuvor - bei dem sie dem ukrainischen Wunsch nach Waffenlieferungen eine klare Absage erteilt hatte - verwies sie aber auch auf die tiefen Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Seiten.
Anschließend zogen sich Baerbock und Lawrow zu Gesprächen hinter verschlossene Türen zurück. Dass die Unterhandlungen nicht einfach waren, bemerkten auch die wartenden Journalisten: Die ursprünglich für eine Stunde angesetzten Gespräche dauerten länger als geplant. Die anschließende Pressekonferenz verzögerte sich um mehr als eine halbe Stunde.
Es gebe »keine Alternative zum Dialog«, erklärte Baerbock anschließend vor den Pressevertretern. Russland und die Ukraine müssten an den Verhandlungstisch zurückkehren, der Normandie-Prozess wiederbelebt, ein neues hochrangiges Treffen in diesem Format schnellstmöglich anberaumt werden. Dem hätte auch Moskau zugestimmt. Zugleich warnte Baerbock Moskau vor einer Eskalation der angespannten Situation an der Grenze zur Ukraine: Deutschland werde die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung verteidigen, »auch wenn dies einen hohen wirtschaftlichen Preis hat«.
Sergej Lawrow stimmte einem solchen Treffen nur unter bestimmten Bedingungen zu - und holte zum rhetorischen Schlag gegen den Westen aus: Die Ukraine habe die Minsker Vereinbarungen sabotiert. Vorwürfe des Westens entbehrten jeder Grundlage. »Wir haben die Versuche widerlegt, die Russische Föderation als Konfliktpartei darzustellen.« Zudem erregte sich der russische Chefdiplomat über Probleme des russischen Auslandssenders RT DE, der sich derzeit vergeblich um eine Sendelizenz in Deutschland bemüht. Lawrow forderte die Bundesregierung auf, die ungehinderte Arbeit des Senders, der vielen als Propagandainstrument des Kremls gilt, in Deutschland zu ermöglichen. Baerbock wies das zurück. In Deutschland gebe es keinen Staatsfunk.
Der Antrittsbesuch der Grünen-Politikerin stand klar im Schatten der Spitzenverhandlungen zwischen Moskau und dem Westen in der vergangenen Woche. Unabhängige Medien widmeten dem Treffen der Außenminister nur wenig Aufmerksamkeit, und auch die staatsnahen Medien berichteten nur spärlich.
Stattdessen konzentrierten diese sich im Vorfeld auf deutsche Gegenstimmen zu Baerbocks neuem Russland-Kurs, der für Aggressionen Moskaus Sanktionen vorsieht und das souveräne Entscheidungsrecht der Ukraine betont. So zitierten die Nachrichtenagenturen beispielsweise den designierten CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der einen eventuellen Ausschluss Russlands aus dem Zahlungssystem SWIFT als »Atombombe für die Finanzmärkte« abgekanzelt hatte.
Viel Platz wurde auch Wortmeldungen der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) eingeräumt. Allein in der »Izvestia« sprachen sich die vier AfD-Bundestagsabgeordneten Jan Nolte, Steffen Kotré, Petr Bystron und Mariana Harder-Kühnel unter anderem gegen Sanktionen gegen Nord Stream 2, den Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem und ukrainische Forderungen nach Waffenlieferungen aus.
Auch ein Politiker der Linkspartei kam zu Wort. Baerbocks Äußerungen entsprächen nicht der politischen Realität, zitiert die Nachrichtenagentur Ria Nowosti den Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko. Es verzerre die außenpolitische Wirklichkeit, den Beitritt der Ukraine und anderer Staaten einzig als souveräne Entscheidung dieser Länder darzustellen. Denn die Nato-Osterweiterung sei nach seiner Meinung eine bewusste politische Entscheidung.
Von britischen Waffenlieferungen an die Ukraine berichtete das »UK Defence Journal« am Dienstag. Demnach lieferten zwei C 17-Transportflugzeuge leichte Panzerabwehrwaffen an die Ukraine, wurde auch in London offiziell bestätigt.
US-Außenminister Antony Blinken kommt am Donnerstag zu Gesprächen über den Ukraine-Konflikt nach Berlin. Geplant sind Treffen mit Vertretern Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens. Zuvor will sich Blinken in Kiew mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj treffen, um Themen wie mögliche Abschreckungsmaßnahmen, zusätzliche Hilfe und mögliche Sanktionen im Falle einer massiven russischen Invasion zu besprechen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.