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Flanieren statt Verkehrshölle
Friedrichshain-Kreuzberg will Oranienstraße 2024 für Autos dichtmachen
Nach über einem Jahrzehnt der Forderungen und der verworfenen Ideen will Friedrichshain-Kreuzbergs neue Verkehrsstadträtin Annika Gerold (Grüne) in der Oranienstraße Nägel mit Köpfen machen. 2024 soll auf der Kreuzberger Einkaufsmeile der private Autoverkehr ausgesperrt werden. »Es wird dort keinen motorisierten Individualverkehr in der Zukunft mehr geben können«, formuliert der Leiter des bezirklichen Straßen- und Grünflächenamts, Felix Weisbrich, das nüchtern bei einem Pressetermin am Mittwoch. Anlieger, Lieferverkehr und auch die wichtige Buslinie M29 sollen allerdings weiter den etwas über einen Kilometer langen Abschnitt zwischen Moritzplatz und U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof befahren dürfen.
»Die Straße ist gefährlich. Die Straße ist nicht schön«, begründet Weisbrich diesen Schritt. Der für Berliner Verhältnisse vergleichsweise schmale Querschnitt von zwölf Metern lasse den Bau eines geschützten Radwegs nicht zu. Wie in einer Fußgängerzone sollen künftig Bürgersteige und Fahrbahn ohne Bordsteine auf einer Ebene liegen. »Es entsteht ein offener Charakter. Es wird eine Einkaufs- und Flanierstraße mit hohem Radverkehrsanteil und Busverkehr«, so Weisbrich Die Durchsetzung des Auto-Durchfahrverbots werde »baulich sichergestellt«, kündigt er an. Schilder oder Fahrbahnmarkierungen werden bekanntlich in Berlin oft großzügig ignoriert, Verstöße kaum geahndet.
Für CDU und FDP sind die Pläne Teufelszeug. »Die Oranienstraße ist eine wichtige Verbindungsstraße, die nicht zu ersetzen ist«, erklärt der FDP-Verkehrspolitiker Felix Reifschneider. »Die Straßen im Umfeld haben gerade zu Stoßzeiten keine freien Kapazitäten.« Auch der CDU-Verkehrsexperte Oliver Friederici betont: »Das ist der falsche Weg.« Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey versicherte bei ihrem Antrittsbesuch beim brandenburgischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke (beide SPD), dass Pendler weiterhin mit dem Auto nach Berlin hereinfahren können sollen.
Immerhin beim Falschparken verspricht sich Stadträtin Gerold durch die neue Aufgabenverteilung im Bezirk, bei der ihr auch die Zuständigkeit für das Ordnungsamt zugeschlagen worden ist, »viele Synergien und Schnittmengen«. Sie setzt auf die digitale Parkraumüberwachung durch Kameraautos, die im Vorbeifahren Kennzeichen und Position der abgestellten Fahrzeuge erfassen können. Einen ersten Testlauf gab es im Dezember vergangenen Jahres. »Wir wollen 2023 mit den ersten Scancars kontrollieren«, sagt Gerold. Doch dafür seien noch rechtliche Fragen zu klären und auch Gesetze zu ändern - ob nur auf Landes- oder auch auf Bundesebene ist allerdings noch offen. »Mein dringender Wunsch: dass wir schnell in die flächendeckende Parkraumbewirtschaftung kommen«, so Annika Gerold. Sie wolle dabei nicht abwarten, bis die Digitalisierung umgesetzt sei. »Das Personal ist an der Stelle allerdings ein offener Punkt«, sagt die Stadträtin. Man sei »unterausgestattet«.
Weiter soll es 2022 auch beim Grünen-Herzensthema Radverkehr gehen. 800 neue Fahrradbügel für 1600 Räder sollen montiert werden - meist auf Autoparkplätzen. Vier Stück belegen einen Stellplatz. Zusammen mit den Projekten für den Bau neuer geschützter Radwege und die Verstetigung der provisorischen Pop-up-Wege werden so etwa 500 Parkplätze wegfallen - etwa ein Prozent des Bestands von rund 50 000 Stück im Bezirk. Im Frühjahr sollen die Arbeiten für eine Fahrradspur auf der Stralauer Allee stadtauswärts beginnen, was eine Autospur kosten wird. Verstetigt werden sollen die Radstreifen beidseitig auf Petersburger und Kottbusser Straße sowie jener auf der Nordseite der Frankfurter Allee. Bei allen Vorhaben gehört dazu auch eine Ausbesserung des oft welligen oder beschädigten Asphalts. »Das ist eine Standardmaßnahme, dass wir aufgrund der Lagerschäden von Autos als erstes eine Deckensanierung machen«, sagt Felix Weisbrich. Mitte des Jahres soll das Geld für einen Radweg auf der Prinzenstraße zwischen Moritzplatz und Ritterstraße da sein.
Noch einmal ran will der Bezirk in absehbarer Zeit auch an die Warschauer Straße. Der 2016 mit nur 1,50 Metern Breite eröffnete Radweg soll mindestens einen Meter breiter und die Ladezonen künftig links daneben angeordnet werden. Teilweise bleibt also nur eine Autospur pro Richtung übrig. »Die Warschauer Straße ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Akzeptanz von Maßnahmen wächst«, sagt Stadträtin Gerold. Im Vorfeld des 2014 begonnenen Umbaus habe es viel Aufruhr wegen der wegfallenden Parkplätze gegeben. »Heute ist das an der Stelle gar keine Erwähnung mehr wert.«
Annika Gerold stellt sich auch hinter die im Bezirk umstrittenen neuen Straßenbahnstrecken zum Ostkreuz sowie von der Warschauer Straße zum Hermannplatz. »Die Straßenbahn 21 durch die Sonntagstraße finde ich sehr wichtig, und ich begrüße auch die Straßenbahnverlängerung zum Hermannplatz«, sagt sie.
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