- Kultur
- »Molière« von Frank Castorf
Alte Meister, große Patriarchen
Am Schauspiel Köln zeigt Frank Castorf in fünfeinhalb Stunden seinen Blick auf Molière
Darf ich vorstellen: Madeleine Béjart, Madame du Parc, Madame du Brie.« Dem Hofzeremoniell folgend, müssen die Schauspielerinnen einzeln vortreten, um sich dem zukünftigen Gönner zu präsentieren. Das Ritual entscheidet, ob Molières »Illustre Théâtre« den Winter in sicherer Anstellung oder aber auf den Marktplätzen Frankreichs verbringt. Bis zur »Troupe du Roi au Palais-Royal« - zur Truppe des Königs und des königlichen Palastes - bringt es das Wandertheater des in der Gunst Ludwigs XIV. stehenden Komödianten.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Doch von ärmlichster Ausstaffierung auf der Bretterbühne hin zum Exzess des Sonnenkönigs ist es ein weiter Weg, der an diesem Fünfeinhalb-Stunden-Abend in Köln von Anfang an erzählt wird. Frank Castorfs Inszenierung »Molière. Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet« beginnt mit der Geburt des Theaterheilands. Kollektiv weinen und schreien die Akteur*innen des Schauspiels Kölns, bis Bruno Cathomas als Molière das Licht der Scheinwerfer erblickt und mit wackelnden Beinen neben seiner Mutter auf der Bühne liegt.
Um ihn versammelt steht seine zukünftige Schauspieltruppe und zieht Bilanz über den unsterblichen Prinzipal. Wie oft wurde der Maître doch gespielt, übersetzt und adaptiert. Aus ihrer glitzernd wallenden Kostümierung spricht der Erfolg. Gewandet sind die Komödianten in barocken Prunk, der um den vertrauten burlesken Glamour der Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki gesteigert ist. Federn, Pailletten, Pelz und Tüll sind die Elemente des eklektischen Protzes, der in etlichen Umzügen in immer neuen Spielarten zur Schau getragen wird. Der emphatische Maximalismus, der bis zum falschen Diamantencollier alle Details übertreibt, stellt sich in jedem Abschnitt als konstellatives Kunstwerk her, denn Schnitte und Stoffe der Kostüme beziehen sich stets aufeinander. Wenn sich in der abschweifungsreichen Bearbeitung der Molière’schen Biografie jeder Sinn zu verflüchtigen scheint, bleibt Peretzkis Werk als stummer Genuss, an den sich der Blick hängen kann.
Doch vorerst ist das Bühnenspiel nicht in den assoziativen Reigen von Michail Bulgakow zum japanischen Butoh-Tanz eingetreten. Alles blickt noch auf Molière, der als Regisseur, Autor und Spieler den cholerischen Theatermacher gibt und seiner Truppe Unfähigkeit vorwirft. Der Patriarch, auf dessen Ähnlichkeit zu Castorf vorsorglich selbst verwiesen wird, schreit die Probierenden zusammen und macht seine Machtposition geltend: »Ich bin schließlich 25 Jahre hier Präsident gewesen.« Ein Vierteljahrhundert war Castorf Intendant der Berliner Volksbühne. Cathomas’ Interpretation des Molière bildet die komischen Höhepunkte und den Rahmen der Aufführung. Nach dem biografischen Auftakt steigt die ganze Truppe in einen gelben Bus, der auf der Bühne parkt, und bricht mit quietschenden Reifen als Wandertruppe in die Provinz auf. Es wird einige Stunden dauern, bis das holpernde Gefährt mit dem Namensgeber des Abends zurückkehrt.
Die französische Schauspielerin Jeanne Balibar spielt wie in Castorfs früherer Berliner Arbeit »Die Kabale der Scheinheiligen. Das Leben des Herrn de Molière« nach Bulgakow Madeleine Béjart, die langjährige Partnerin des Dramatikers. Magnetisch fangen die Kameras ihre Blicke ein, während sie in einem versteckten Zimmer verschwindet. Hinter dem riesigen Aufsteller, auf dem vier Männer mit aufgerissenen Mündern und rollenden Augen Zeitung lesen, sind zwei Räume hergerichtet: ein Speisesaal mit Ausblick auf die Pariser Straßen und ein prunkvolles Bad. Dort gleitet die entkleidete Balibar in eine große Wanne. Sie ist reines Begehren, an dem die drei Männer, die sich mit ihr im Wasser rekeln, scheitern. Ihre nackten, seifigen Leiber verschlingen einander im Waschritual, bis die Eifersucht siegt. Ein Duell über ihrem Körper entbrennt, der sich zu einer Auseinandersetzung über den Stand der Künste ausweitet.
Balibar, die das Stereotyp der sexy, starken Überfrau ausspielt, zieht in den nächsten Stunden die Aufmerksamkeit an sich. Schauspieler Marek Harloff lehrt sie sorgfältig die Bildung der Vokale, die sie mit Nachdruck rauspresst. Versatzstücke aus Molières »Die gelehrten Frauen« und »Der Bürger als Edelmann« geben sie, dann rennen sie an die verborgene Rückwand und berichten von Sowjetrussland.
Wie Molière fristete Bulgakow ein Dasein in Abhängigkeit eines Gönners. Im Moment seiner größten Not verfasste er eine Bittschrift an Stalin, in dem er um eine Anstellung am Moskauer Künstlertheater oder eine Ausreisegenehmigung bittet. Das Ziel seiner Stücke sei »Ruhe, Friede, Unterhaltung«, ein gefälliger Spaß im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Wsewolod Meyerhold, der wie andere Künstler des Theateroktobers verfolgt und ermordet wurde. Die ewige Ambivalenz der Abhängigkeit und Angst vor Zensur verarbeitete Bulgakow in seinen Texten über Molière. Mit zahlreichen Zitaten und Verweisen stellt die Inszenierung die 300 Jahre überbrückende Verwandtschaft beider Künstler heraus, die Castorf bereits in »Die Kabale der Scheinheiligen« umtrieb.
Aleksandar Denić zitiert die vergangene Arbeit ebenfalls in seinem Bühnenbild. Die ornamental bemalte Bretterbühne stand schon vor sieben Jahren in der Volksbühne und ist nun, ihrem Vorbild nacheifernd, Wanderkulisse geworden. Leibliches Theater im Sinne der Commedia all’improvviso, deren Maskenfiguren und derbe Scherze der Komödiendichter auf die Bühne brachte, findet den Weg nicht aufs Podest. Dafür wird das Publikum in die Körperpraxis des japanischen Butoh-Tanzes eingeführt. Dem fragmentierten Leibesempfinden der Kinder entsprechend, versucht sich der Tänzer auseinanderzunehmen, bis er als kreatürliches Wesen seinen neuen Bewegungsapparat auf der Bühne austestet, erzählt der Kölner Schauspieler Kei Muramoto. Auf Japanisch und Deutsch führt er aus, wie der Tanzstil nach dem Zweiten Weltkrieg von Tatsumi Hijikata und Kazuo Ōno entwickelt wurde. Im durchsichtigen Kleid ausdruckstanzt Balibar währenddessen über den Boden - möglicherweise eine Butoh-Interpretation -, dazu Schreckensbilder von Hiroshima und eine arhythmische Geräuschkulisse, improvisiert von der Pianistin Marlies Debacker.
Dann dröhnt »You’re losing your Vitamin C« von der Kölner Avantgarde-Band Can über die Bühne, zerrüttet die langwierige Performance-Konstellation und rüttelt wach. Etwas verrenkt, kommt an diesem Abend das Verhältnis von langen, zeitrelativierenden Phasen und schnellem, bewegungsreichem Spiel daher. Aber das Publikum spürt die Zielgerade, denn nach einigen Abstechern in das Werk Molières tritt der Maître selbst auf die Bühne zurück. Laut quietschend hält der gelbe Bus, mit dem er sich in die Wanderjahre verflüchtigte - eine Zeit, in der die historische Figur tatsächlich aus den Aufzeichnungen verschwand. Kaum wiedergekehrt, geht es schon bergab. Er vermählt sich mit der 20 Jahre jüngeren Armande Béjart, der Schwester, womöglich Tochter, seiner langjährigen Geliebten Madeleine. Lola Klamroth, die mit Sophie Rois’schem Stimmorgan die »Seeräuber-Jenny« schmettert, zofft sich nur kurz im komischen Kamerawechselspiel mit der älteren Balibar, denn diese ist dem Tod schon nahe. Röchelnd krümmt sich alsbald auch der nun 50-jährige Molière zusammen, hustet aggressiv ins Publikum und kämpft um sein Leben im Würgegriff der Tuberkulose. Nach der vierten Vorstellung des »Eingebildeten Kranken« erleidet er einen Blutsturz. Nicht mal die Sauerstoffflasche, an der er verzweifelt saugt, kann ihn noch herrichten.
Es ist das Ende des Unsterblichen, dessen Gebeine in der Erde verschwunden sind. In assoziativen Sprüngen schreiten die Theaterpatriarchen das Wirkfeld ihrer Kunst ab und frönen dem Exzess - Glitzer und Gebrüll bringen die Elemente zum Überschäumen. Der Abend lässt sich Zeit, im Über- und Ausschuss zu schwelgen und kommentiert selbstgefällig seine ausufernden Gesten. Im Machtspiel mit dem Publikum feiert das Spektakel nicht nur den 400 Jahre alten Komödiendichter, sondern auch seine Rezipienten, zitiert neben den Bulgakow-Verarbeitungen auch den wunderbaren Molière-Film von Ariane Mnouchkine. Ein mäandernder Marathon, der von exzentrischen Ideen und Schauspielpersönlichkeiten getragen wird.
Nächste Vorstellungen: 28.1., 4. und 6.2.
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