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Für die Interessen der Älteren
In Frankreich nutzt der »Rat der Alten« die Medienaufmerksamkeit vor der Präsidentschaftswahl im April
Um die gesteigerte Medienaufmerksamkeit während des Präsidentschaftswahlkampfes in Frankreich für Meinungen und Vorschläge aus breiten Wählerkreisen zu nutzen, hat sich ein »Selbsternannter Rat der Alten« gebildet. Er will die Kandidaten der verschiedenen politischen Lager dazu bringen, das Leben im Alter zu einem der Themen ihres Wahlkampfes zu machen. Mitbegründer des Conseil national autoproclamé de la vieillesse (CNaV) sind mehr als 40 Persönlichkeiten aus Politik, Kultur, Medizin und Wissenschaft, die zwar alle bereits im Pensionsalter sind, aber noch mitten im Leben stehen. Darunter findet sich allein ein halbes Dutzend - rechter wie linker - ehemaliger Minister für Gesundheit und soziale Solidarität, für die Rechte der Frauen oder für die Integration von Behinderten.
Unmittelbarer Anstoß für die Initiative war, dass Präsident Emmanuel Macron vor einem halben Jahr in einer Rede ein Gesetz über das hohe Alter angekündigte hatte. Allerdings hat die Idee bisher keine Gestalt angenommen, sie ist ein leeres Versprechen geblieben. Hauptforderung des Altenrates ist die Einsetzung eines Nationalen Konsultativrates für alte Menschen, der unmittelbar dem Premierminister zugeordnet ist - so wie es dort bereits einen Konsultativrat für behinderte Menschen gibt. Von der Regierung und den untergeordneten öffentlichen Instanzen dürfe keine Entscheidung gefällt werden, die ältere Menschen betrifft, ohne dass diese zuvor konsultiert wurden.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Die Gründer des Altenrates wenden sich auch gegen den in wachsendem Maße von den Medien und von populistischen Politikern künstlich geschürten »Generationenkonflikt« mit seiner Übertreibung der Rolle der jüngeren Generationen und der Herabwürdigung der Alten. Der Rat schlägt eine ganze Reihe praktischer Maßnahmen vor, um den älteren Mitbürgern das Leben zu erleichtern. Beispielsweise sollten in den Städten kippsichere dreirädrige Leihfahrräder bereitgestellt und freie Fahrt mit allen öffentlichen Verkehrsmitteln einschließlich Taxis gewährt werden. Um den Zugang zur Kultur nicht abreißen zu lassen, sollten Theater und Kinos für schwerhörige Besucher Kopfhörer bereithalten. Da die Digitalisierung von immer mehr Dienstleistern und öffentlichen Ansprechpartnern zur Isolierung älterer Menschen und dazu führt, dass sie ihnen zustehende Hilfen nicht in Anspruch nehmen können, sollten die Kommunen für sie kostenlose Computer- und Internet-Kurse organisieren.
Doch weit über Zugeständnisse an altersbedingte körperliche und geistige Probleme hinaus geht es grundsätzlich um Möglichkeiten für die Alten, in Würde zu leben und eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen. Der heute 82-jährige Bernard Kouchner, der 1971 die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen mitgegründete und zwischen 1992 und 1999 zweimal Gesundheitsminister war und jetzt zu den Initiatoren des Altenrates gehört, sagt: »In den Entwicklungsländern des Südens, deren gesellschaftliche Verhältnisse bei uns nur zu oft herablassend betrachtet werden, kommt den Alten eine ganz andere Rolle zu als bei uns. Ihre Erfahrungen werden geschätzt und auf ihren Rat hört man. In Frankreich dagegen sieht man die Alten vor allem als eine Belastung an und nur zu oft schiebt man sie ab oder grenzt sie aus.« Die ebenfalls 82-jährige Theaterregisseurin Ariane Mnouchkine, die es als Privileg ansieht, dass sie noch arbeiten kann, kritisiert den Trend, ältere Menschen unter dem Vorwand, sie zu schützen, in Wirklichkeit zu entmündigen und um elementare Menschenrechte zu bringen.
Der Altenrat kritisiert, dass seit vielen Jahren die verschiedenen Regierungen die Alten sträflich vernachlässigt haben. Dass die Renten weitaus schleppender der Inflation angepasst wurden als die Löhne und dadurch de facto gesunken sind, hat zu immer mehr Fällen von Altersarmut geführt. Aber auch die Gesetze sind wenig altersgerecht. So gilt seit 2015 die Vorschrift, dass alle öffentlichen Einrichtungen und Verkehrsmittel, aber auch Läden, Restaurants und Kultureinrichtungen rollstuhlgerecht zugänglich sein müssen. Das hatte man bereits zehn Jahre zuvor angekündigt, um den Verantwortlichen Zeit zu lassen, sich langfristig darauf einzustellen. Tatsächlich jedoch ist diese Vorschrift bis heute bei weitem noch nicht umgesetzt, weil die Behörden immer wieder Ausnahmegenehmigungen erteilen und damit das Gesetz selbst unwirksam machen.
Ähnlich ist die Lage im Wohnungsbau, wo es gut gemeinte Vorschriften gibt, aber trotzdem viel zu wenig altersgerechte Wohnungen gebaut werden. Ein besonderer Skandal ist es, dass Frankreich im Gegensatz zu den meisten westeuropäischen Ländern immer noch nicht über eine Pflegeversicherung verfügt, weil sich die verschiedenen politischen Parteien nie darüber einigen konnten. So müssen heute Insassen von Pflegeheimen oder deren Angehörige den Großteil der monatlichen Aufenthaltskosten aus der eigenen Tasche bezahlen, was zwischen 1800 Euro in der Provinz und 3100 Euro in Paris ausmachen kann. Trotzdem ist der Zustand in den Pflegeheimen fast überall unbefriedigend und immer wieder wird durch die Medien auf besonders schwere Mängel, Versäumnisse und Fälle menschenunwürdiger Behandlung aufmerksam gemacht.
Die Ursache dafür liegt meist in der zu geringen Anzahl des Betreuungspersonals im Verhältnis zur Zahl der Insassen. Dieses Verhältnis beträgt bestenfalls 1 zu 4, oft aber nur 1 zu 8. Die Coronaepidemie, in der vor allem anfangs überdurchschnittlich viele Alte starben, hat das besonders deutlich gemacht. Da wurde von Teilen der Öffentlichkeit über die Medien sogar darüber diskutiert, welcher medizinische Aufwand für alte Menschen noch betrieben werden solle und ob der nicht auf Kosten junger Menschen gehe.
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