Sinnliche Erkenntnis

Die Natur, die wir selbst sind: Ein Nachruf auf Gernot Böhme

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 4 Min.

Er gehörte zu den originellsten und unabhängigsten Denkern, die die akademische Philosophie der BRD hervorgebracht hat. Gernot Böhme war Mathematiker, Physiker und Philosoph. Mitte der 70er Jahre, als Mitarbeiter am Max-Planck-Institut in Starnberg, schrieb er an einem Sammelband über Wissenschaftspolitik mit, den Wolfgang Pohrt herausgab. Böhme forderte eine »Veränderung des Wissenschaftssystems«, damit wissenschaftliche Arbeit »als unmittelbar gesellschaftlich« und die Auswahl ihrer Gegenstände »als politisch« erfahrbar werde. So habe es Marx im 19. Jahrhundert skizziert. Doch mit der »Isolierung der Scientific Community aus der übrigen Gesellschaft« und der »Isolierung des bürgerlichen Individuums aus den politischen Bezügen« sei das falsche Ideal wertfreier Wissenschaft errichtet worden.

Mitte der 80er Jahre trat Böhme für das transdisziplinäre Projekt »Soziale Naturwissenschaften« ein, das »Wege zu einer Erweiterung der Ökologie« beschrieb. Da war er bereits Professor für Philosophie in Darmstadt. Sein Interesse galt einer Kritik der industriekapitalistischen Naturvernutzung. Deren Folgen untersuchte er vor allem aus der Perspektive einer Ästhetik der Natur. Naturerfahrung sei dadurch gekennzeichnet, dass es keine natürliche Natur mehr gibt. Natur, schrieb Böhme in Anlehnung an Walter Benjamin, existiert nur noch als technisch reproduzierte Natur.

Böhme arbeitete sich beharrlich an Adornos subversiver Naturästhetik ab. Er suchte nach Möglichkeiten, Humanität in Freiheit jenseits der herrschaftlichen Subjektivität zu bestimmen. Im Zuge der postmodernen Dekonstruktion der Kategorie des Subjekts hatte er zu Beginn der 80er Jahre gemeinsam mit seinem Bruder, dem Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme, eine Kritik an der Domestizierung der inneren Natur formuliert. Er lastete sie Kant an, der »das Andere der Vernunft« sinnenfeindlich unterdrücke.

Komplementär dazu, so führte Böhme in zahlreichen Schriften seit den 90er Jahren aus, ästhetisiere der globale Kapitalismus die Welt. Eventarchitektur, Produkt- und Werbedesign machen den Tauschwert der Waren zum Träger ihres »Inszenierungswerts«. Die »ästhetischen Eigenschaften der Ware«, schrieb er 2001 in der »Zeitschrift für kritische Theorie«, »bilden gewissermaßen einen neuen Typ von Gebrauchswert, der sich vom Tausch ableitet, insofern nämlich nun von ihrer Attraktivität, ihrer Ausstrahlung, ihrer Atmosphäre Gebrauch gemacht wird: Sie selbst dienen der Inszenierung, der Ausstaffierung und Steigerung des Lebens.« Die »ästhetische Ökonomie« verführe zu einer widersprüchlichen Inszenierung des eigenen Lebens. Böhme plädierte deshalb dafür, die philosophische Ästhetik als Theorie sinnlicher Erkenntnis zu rehabilitieren, die »in der Welt etwas entdeckt, das anderen Erkenntnisweisen nicht zugänglich ist«.

Er stützte sich auf die Phänomenologie des Leibes. Weniger auf deren Begründer, den Sozialisten Maurice Merleau-Ponty, sondern auf den Kieler Irrationalisten Hermann Schmitz. Schmitz, der häufig dubios argumentierte, verstand leibhafte Erfahrung im Anschluss an Ludwig Klages als etwas, das es vor dem aufklärerischen Begriff zu schützen gelte. Da ging Böhme aber nicht mit. Er hat es zwar nicht immer unmissverständlich formuliert, doch im Prinzip folgte er in seiner vielbeachteten Theorie der »Atmosphäre« Walter Benjamins geschichtsmaterialistischer Transformation des »Aura«-Konzepts (das seinerseits auf Klages zurückgeht). Mit einem großen Unterschied: Benjamin hielt die Aura des Kunstwerks, also das Hier-und-Jetzt- Erlebnis bei der Betrachtung des Originals, für ein Relikt der bourgeoisen Kunstreligion mit ihrem Fetisch des Tauschwerts großer Werke. Böhme wollte die Aura als mediale Erfahrung im Alltag rehabilitieren: als »Wirklichkeit des Wahrgenommenen«, das anwesend ist, und zugleich als »Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, leiblich anwesend ist«.

»Sich zeigen, in Erscheinung treten, sich selbst und seine Welt inszenieren«, darauf hat Gernot Böhme bestanden, »ist ein legitimes Anliegen.« Sein Horizont für die Zusammenarbeit zwischen Philosophie, Design und Wissenschaft war eine gesellschaftlich-praktische Humanisierung der Natur (auch der eigenen inneren). Und eine Naturalisierung der ästhetischen Alltagserfahrung durch Befreiung vom Verwertungszwang. Am 20. Januar ist Gernot Böhme gestorben.

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