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Die Grenzen der Expertise

Wissenschaftliche Beratung spielt in der Politik eine immer größere Rolle. Leben wir gar in einer die Demokratie gefährdenden Expertokratie? Neue Bücher werfen einen Blick auf das problematische Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 11 Min.

Es war eine handfeste Überraschung, was das Robert-Koch-Institut (RKI), eine dem Gesundheitsminister unterstellte Bundesbehörde, vor wenigen Tagen bekannt gab. Nach einem Nachweis einer Corona-Infektion soll man nun nur noch drei Monate als genesen gelten, eine Impfung mit Johnson & Johnson gilt nicht mehr als vollständig. Ohne vorherige Debatte oder Ankündigung wurde Millionen von Menschen ein Status entzogen, der dieser Tage über die Teilhabe am öffentlichen Leben entscheidet. Und das allein durch eine kleine Veränderung auf der Internetseite des RKI. Prompt warfen kritische Juristen ein, dass dieses Vorgehen abseits des Parlaments den daraus folgenden schwerwiegenden Grundrechtseinschränkungen kaum angemessen und »absolut skandalös« sei.

Überraschend war auch die Begründung: Man verwies auf »wissenschaftliche Evidenz«. Die Universität in Frankfurt am Main hat kürzlich in einer Studie mit dem Paul-Ehrlich-Institut Antikörper über 14 Monate nach einer Infektion nachgewiesen, ohne dass ein Endpunkt absehbar sei. Die Universität Lübeck untersuchte zudem noch die Zellkörperimmunität, als Ergebnis wurden mindestens zehn Monate Langzeitimmunität genannt. Doch weder die eine noch die andere Studie wurden vom RKI überhaupt erwähnt. Und überhaupt: Unter wissenschaftlich mag man sich eher ein transparentes Verfahren vorstellen, kein undurchsichtiges politisches Manöver. Entsprechend harsch fiel die Kritik von Wissenschaftlern aus, darunter so bekannte wie Hendrik Streeck, Alexander Kekulé und Klaus Stöhr. »Nicht nachvollziehbar« nannte den Vorgang der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl.

Und noch etwas war überraschend. Als das RKI zuvor die Schutzdauer für Genesene mit sechs bis zehn Monaten angab, bezeichnete es die Festlegung auf den niedrigeren Zeitraum als eine »politische Entscheidung«. Nun also die Kehrtwende zur »wissenschaftlichen Evidenz«? Das fällt schwer zu glauben, denn den Genesenen schlägt kaum ein großes wissenschaftliches und politisches Interesse entgegen. Über diese in Deutschland nach Schätzungen von Watzl bis zu 20 Millionen Menschen liegen kaum Daten vor, der Anteil an Geimpften und Ungeimpften oder an Krankenhauseinweisungen wird nicht erhoben, in der Debatte um eine mögliche Impfpflicht spielen sie keine Rolle. Kaum vorstellbar, dass die durch eine Infektion hervorgerufene Immunität schlechter sein sollte als nach einer diese imitierenden Impfung. Zudem unter anderem auch Wissenschaftler wie Christian Drosten davor warnen, wieder und wieder zu impfen. Schon bei einer vierten Impfung sieht die Europäische Arzneimittelbehörde die Gefahr, dass die Immunreaktionen geschwächt und die Menschen erschöpft würden.

So liegt der Verdacht nahe, dass die Neubewertung der Genesenen weniger den wissenschaftlichen Erhebungen folgt, als weit mehr der schlichten politischen Tatsache, dass die unprofitable »Gratisimmunität« wenig interessiert, zudem die Bundesrepublik insgesamt über 660 Millionen Dosen Impfstoff bestellt hat – weit mehr als bisher bekannt. Das sind knapp acht pro Person, würde man mit dem Impfen schon bei Neugeborenen beginnen. Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums begründete so die Änderung bei den Genesenen auch mit dem »Anreiz zum Impfen«. Wird hier Willkür als Wissenschaft verklärt? Abseits solcher Spekulationen wirft der Vorgang zahlreiche Fragen auf, so dass ein Kommentator das Geschehen mit folgenden Worten zu kritisieren suchte: »Wir leben in einer Demokratie, nicht in einer Expertokratie.« Doch was heißt das?

Herrschaft der Experten?

Die Vorstellung von der Herrschaft der Experten taucht immer wieder auf. Während sie von den einen geradezu frenetisch als Schritt in eine aufgeklärte Zukunft begrüßt wird, lehnen die anderen sie nicht weniger heftig als Eingriff in Autonomie der eigenen oder politischen Sphäre ab. Seit Ende der 1950er Jahre wird diese Debatte in der Öffentlichkeit und Wissenschaft der Industrieländer geführt. Feste Rollen gibt es dabei nicht wirklich. Waren es einst vor allem Linke, die gegen konservative Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit rebellierten, scheint sich das Verhältnis inzwischen umgekehrt zu haben. Doch unabhängig von der Bewertung lässt sich feststellen, dass Experten eine kaum zu unterschätzende Rolle im gesellschaftlichen Leben spielen. Und eine umstrittene.

Das liegt in der Natur der Sache, wie Gil Eyal in »Die Krise der Expertise« darlegt. 2019 im englischen Original erschienen, ergreift das knapp 350 Seiten umfassende Buch nicht einfach Partei im Streit um die Wissenschaft und die Experten, sondern will das zugrundeliegende Problem des Konflikts ausmachen. Es ist eine kenntnis- und materialreiche Tour de Force durch die Geschichte und Theorie der Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Herausgegeben hat es Peter Schneider, der seinem eigenen im Herbst 2020 erschienenem Buch »Follow the Science?« den etwas barock anmutenden Untertitel »Plädoyer gegen die wissenschaftsphilosophische Verdummung und für die wissenschaftliche Artenvielfalt« verpasst hat und das sich geradezu als eher populär gehaltene Hinführung zu Eyals theoretischem Schwergewicht liest.

Eyal, 1965 in Israel geboren und inzwischen Soziologie an der renommierten und als politisch links bekannten Columbia University in New York lehrend, betreibt sehr gründlich das, was man von kritischer Wissenschaft erwarten kann. Er zerstört nämlich zunächst die falschen Begriffe der öffentlichen Debatte, die einen realistischen Blick auf das Dilemma der Expertise verbergen. Wissenschaft gegen Leugnung, Fakten gegen Fake, Vernunft gegen Geschwurbel? Für Eyal sind das irreführende Zuschreibungen. Die Schwerkraft oder Quantenmechanik leugne kaum jemand, also auch nicht die Wissenschaft als solche. Und tatsächlich: Wer das Zweifeln am Wahrheitsgehalt von Aussagen außerhalb des Wissenschaftlichen zu stellen versucht, missachtet dessen innerstes Prinzip - den nichts und niemanden aussparenden Zweifel. Was darüber stehen soll, die sogenannten Fakten, sind Schätzungen, Modelle, Vorhersagen, Vorausberechnungen, Richtlinien, Punkte in einem Diagramm, Expertenurteile, aber keine »Fakten«, so Eyal.

Der Streit wird dort ausgetragen, wo Wissenschaft und Politik aufeinandertreffen, wo es beispielsweise um Risikoabschätzungen oder um mögliche Folgen von Handlungen geht, wie beim Klimawandel oder Impfungen. Und da sprechen die »Fakten« nicht für sich selbst, das tun sie nie, sondern sie sind Teil einer öffentlichen Auseinandersetzung, wie auch die Expertise. Sie ist in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft unabdingbar, gerade dann, wenn nur Spezialisten verständliche Dinge in die Allgemeinheit wirken. Doch die Allgemeinheit hat darüber zu befinden, was da auf sie wirkt, und das lässt sich schwerlich durch Verweis auf die Spezialisten abkürzen – außer man würde ihnen das Recht zugestehen, über die Allgemeinheit zu entscheiden. Das wäre allerdings tatsächlich ein Expertenherrschaft. So muss man unter demokratischen Bedingungen akzeptieren, dass Experten nur ein Teil der politischen Willensbildung sind. Und darin kann man den Experten ein besonderes Vertrauen entgegenbringen, es aber auch fundamental in Frage stellen. Denn auch Experten können nicht alles wissen, sie sind Experten nur auf ihrem Gebiet, sehen nur einen Teil des Gesamtbildes (das berühmte Dilemma der »Fachidioten«). Und so irren sie auch, nicht selten sogar. Beeinflussbar sind sie außerdem.

Der Kniff von Eyal ist, dass er die Krise der Expertise für unausweichlich hält. Einerseits, weil das menschliche Wissen konstitutiv unabgeschlossen ist, man mit Unsicherheit und Unwissen also umgehen muss. Andererseits, weil alle Versuche, ihr zu entgehen, die Krise verschärfen. Was sich für ihn deutlich bei dem Vorhaben zeigt, die Wissenschaft gegen Angriffe verteidigen zu wollen - und damit aber das dialektische Forttreiben der Widersprüche zu unterdrücken. Was man tun soll, lässt sich aus der Wissenschaft nicht unmittelbar ableiten, sie ist kein religiöses oder moralisches System. Eyal plädiert zuletzt für eine Republik der Transwissenschaften, eine demokratische Vision, in der das wechselseitige Überbringen schlechter Botschaften und unbequemer Tatsachen zur Ethik eines gemeinsamen Umgangs mit Wissen und Nichtwissen wird - das Gegenstück zu der autoritären Geste, missliebige Äußerungen außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses zu stellen und damit zum Schweigen zu bringen. Aus der radikalen Unabgeschlossenheit der Wissenschaft folgt, dass ihre Grenzen nur gemeinsam gefunden werden können. Denn nur realistische Annahmen über das, was Wissenschaft ist, ermöglichen ein vernünftiges Handeln in und mir ihr. Zu einer solchen Korrektur trägt Eyals Buch bei.

Demokratie und Wissenschaft

Die Gegenwart scheint von Eyals Utopie weit entfernt. Die »science wars« sind im vollen Gange. Der Soziologe Alexander Bogner, der an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zur Governance kontroverser Technologien arbeitet, spricht gar von einem »epistemischen Tribalismus«, also abgeschottete Wahrheitsgemeinschaften, die einander entweder indifferent und verfeindet sind. Für Bogner ist das vor allem die Folge einer radikalen Offenheit, wie sie beispielsweise Paul Feyerabend mit »Wider den Methodenzwang« vertreten hat. Doch lässt sich das Problem durch eine forcierte Rückkehr zu einem »objektiven Wahrheitsbegriff« lösen, wie Bogner suggeriert? Der war ja in die Krise geraten, weil das »Objektive« an festgelegte Verfahrensweisen und Institutionen delegiert wurde, also nicht hielt, was er versprach. Und deswegen stellte die Kritik nicht die Wissenschaft in Frage, sondern deren verdinglichte und ausschließende Form, war also der Versuch einer Rückkehr zur Wissenschaft als offener Methode.

Der Wahrheitsbegriff lässt sich jedenfalls nicht als Institution rehabilitieren, das wäre nicht nur widersinnig, sondern provoziert zudem den Widerstand, der vorgeblich vermieden werden soll. Und Wissenschaft ist eben kein Wahrheitsministerium, auch wenn sich inzwiscen selbst linke Stimmen häufen, die mit einer solchen Vorstellung hantieren. Doch Bogner interessiert sich nicht nur für die Demokratie in der Wissenschaft, sondern auch die Wissenschaft in der Demokratie. Knapp über 130 Seiten umfasst seine Schrift »Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet«, eine übersichtliche Einführung in die gesamte Debatte mit besonderem Blick auf die Corona-Maßnahmen, den Klimawandel und die Pflichtimpfung.

Gesellschaftliche Konflikte zu lösen, indem man auf die Wissenschaft und Experten verweist, kann nach Bogner nicht funktionieren. Die Verwissenschaftlichung der Politik zieht eine Politisierung der Wissenschaft nach sich. »Wer die für alle sozialen Konflikte maßgeblichen Werte- und Interessendivergenzen nicht wahrnimmt, wird nicht einmal die Logik von Wissenskonflikten verstehen«, schlussfolgert Bogner. Doch der Soziologie geht noch weiter: Die neue Variante des Szientismus sei wahrscheinlich bedenklicher als das leicht durchschaubare Spiel mit Fake News und Twitter-Lügen. Eine Politik, die sich mit Verweis auf die Wissenschaft als alternativlos versteht, provoziere eine Politik der alternativen Fakten. Wissenschaft zur Entpolitisierung sozialer Konflikte zu benutzen, richtet enormen Schaden an, zu einer Demokratisierung der Wissenschaft trägt es auch nicht bei.

Politik folgt einer anderen Logik als Wissenschaft, ein Kurzschluss beider Sphären ist auf keiner Seite von Nutzen. Dieser Beobachtung fügt Bogner eine weitere hinzu: »Ging es für den Marxismus darum, die Demokratie vor der Macht der Privilegierten zu schützen, will man heute eher die Demokratie vor der Dummheit der Leute retten.« Ähnlich hatte es Wolfgang Merkel, eine Koryphäe der linksliberalen Politikwissenschaft in der Tradition von Jürgen Habermas und Claus Offe, im Herbst formuliert. Die postökonomische Linke wolle heute die Demokratie nicht mehr vor den ökonomisch Mächtigen, sondern den »Dummen« und »Ignoranten« schützen. Kulturelle Trennungen ersetzten Umverteilung. Man kann sagen, der blinde Einsatz für »die Wissenschaft« als Institution trägt somit zum Abschied einer Politik von unten bei. In einer Phase zugespitzter Interessenskonflikte, in der das politische Aushandeln schwieriger wird, soll Wissenschaft als neue Autorität fungieren, mit der man die Ansprüche ganzer Bevölkerungsgruppen abschmettern kann.

Geborgte Autorität

Vermutlich kann es kein unproblematisches Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik geben und mit Eyal und Bogner wäre hinzuzufügen, dass es zurzeit darum gehen müsste, das Problematische in seinem gesamten Umfang überhaupt erst zu erfassen. Die Vorstellung einer allen Interessen enthobenen Wissenschaft ist nicht nur realitätsfern, es trägt auch dazu bei, Widersprüche nicht mehr wahrzunehmen. Eine »Konsensdiskriminierung«, wie von der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim ins Spiel gebracht, führt völlig in die Irre; als ob ein solcher Konsens festgelegt werden könnte und sich ein Wissensstand nicht jedes Mal gerade durch den Zweifel, die Kritik und das Abweichende erneuern müsste. Wenig hilfreich sind auch jene Verteidiger der Wissenschaft in den Medien, die mit deren simpelsten Einsichten auf Kriegsfuß stehen, wie dass Korrelation nicht Kausalität ist. Dem zum Trotz werden munter Infektionszahlen aus politischen Einstellungen abgeleitet, zumindest so lange, wie es in die eigene Vorurteilsstruktur passt. Und auch die Lockdowns sind entgegen ihres Rufs alles andere als solide wissenschaftlich evaluiert.

Die Wissenschaft in politischen Konflikten als unanfechtbare Autorität ins Feld zu führen, wird vermutlich immer zur Folge haben, diesen Geltungsanspruch zurückzuweisen, weil sie ihn auch nicht erfüllen kann. Für die Debatte könnte man sich sowohl mit solchen misslichen Autoritätsargumenten zurückhalten, als auch die oft daraus folgende Diskreditierung des Gegenübers unterlassen. Und sollte derweil immer wieder kritisch überprüfen, ob tatsächlich die Wissenschaft gemeint ist, wo ihr Name im Munde geführt wird - bei der Frage der Genesenen oder in der Debatte um die Impfpflicht. Denn ohne das ständige Hinterfragen ist alle Wissenschaft nichtig, ihr Name nur ein schaler Abglanz geborgter Legitimität, wo die eigene längst bröckelt.

Bogner, Alexander: Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Reclam, 132 S., br., 6 €

Gil Eyal: Die Krise der Expertise. Hrsg. v. Peter Schneider. Edition Patrick Frey, 351 S., br., 12 €.

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