Die emotionale Blindheit

Eine Frage des Charakters und keine der Intelligenz: Heidi Kastner geht den Wurzeln der Dummheit nach

  • Jens Buchholz
  • Lesedauer: 5 Min.

Dummheit ist vor allem mal zum einen diese unhinterfragbare Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein, und zwar ohne Zweifel.« So versucht die österreichische Ärztin Heidi Kastner in einem Interview mit der Tageszeitung »Der Standard« den Begriff Dummheit auf den Punkt zu bringen.

»Dummheit ist aber auch eine völlig fehlverstandene Toleranz, die meint, man müsse alles gelten lassen«, fügt sie einen weiteren Aspekt hinzu. Das klingt nach dem berühmtem Intoleranzparadox des Philosophen Karl Raimund Popper, das besagt, die Toleranten müssten gegenüber den Intoleranten intolerant sein. Wenn jemand »seine Wahrheit« über die aller anderen stelle, dann liege ihm laut Popper auch der Gedanke nahe, für diese über Leichen zu gehen. Es lohnt sich also, die Dummheit zu bekämpfen.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Und das tut Heidi Kastner in ihrem kleinen Buch »Dummheit«. Kastner ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie am Kepler-Universitätsklinikum in Linz. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte sie als forensische Gerichtsgutachterin. Auch als Publizistin hat sie sich einen Namen gemacht.

Dummheit ist für Kastner nicht das Gegenteil von Intelligenz. »Es gibt furchtbar dumme Menschen, die im Intelligenztest grandios abschneiden, und Leute, die sind durchschnittlich begabt, haben aber eine gewisse Form von Klugheit, die sie vor Dummheit bewahrt«, erläutert Kastner im Interview. Dummheit ist für sie eine Frage der Persönlichkeit oder des Charakters. »Dumm meint, ignorant zu sein, unglaublich selbstsicher oder ›bei sich‹ zu sein, wie es so schön heißt heutzutage.«

Als »Säulen der Dummheit« skizziert Kastner in ihrem Buch kurze Persönlichkeitsprofile. Da sind die »Lernverweigerer«, die sich dagegen sträuben, auch das Wissen als relevant zu betrachten, das sie nicht besitzen. Oder die »Denkfaulen«, die ihre eigene Wissensbasis nicht erweitern wollen, weil sie glauben, dass alles, was über ihr Wissen hinausgeht, nicht wichtig sei. Der »Faktenverweigerer« stellt seine eigene Urteilsfähigkeit über die aller anderen, weil er sich selbst nicht infrage stellen will.

Die Dummheit der »Ignoranten« wiederum »besteht in der Verweigerung eines Lebens in begrenzter, geordneter Freiheit, das als Grundkonzept aller demokratischen Gesellschaftsstrukturen verstanden werden muss«. Für sich selbst fordern die »Ignoranten« unbegrenzte Freiheit, ohne zu überlegen, was das für die Freiheit aller anderen bedeutet. Und dann sind da noch die »Verschwörungstheoretiker«, deren Welt in ein klar fassbares »Gut« und »Böse« geteilt ist, durch das die Komplexität politischer Themen aufgelöst wird. So, als sei die Realität ein »Star Wars«-Film.

Die Wurzeln der Dummheit liegen laut Kastner in einer Art von emotionaler Blindheit. Sie entstehe, wenn man nicht gelernt habe, seine eigenen Emotionen zu definieren, sie zu hinterfragen und zu kontrollieren. Die Möglichkeit, »von emotionalen Bedürfnissen zu dummen Entscheidungen zu gelangen, ist dann gegeben, wenn diese Bedürfnisse nicht hinterfragt werden, wenn also der Wille, sich ›gut‹ zu fühlen, handlungsbestimmend wird«.

Der Gewinn einer solchen gefühlten Positionierung liege »in der Möglichkeit, Komplexität und Widersprüchlichkeit auszublenden, einfache, klare Antworten auf diffizile Fragen zu finden und nicht ertragen zu müssen, dass es solche Antworten immer wieder einmal nicht gibt«. Ambiguitätstoleranz ist offenbar eine langsam verschwindende Fähigkeit.

Aber warum eigentlich? Heidi Kastner gibt darauf keine Antwort. In »Über Gewissheit« formulierte der Philosoph Ludwig Wittgenstein eine wichtige Einsicht. Sein Weltbild habe man nicht, weil man sich persönlich von seiner Richtigkeit überzeugt habe. Man habe es, weil es der »überkommene Hintergrund (ist), auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide«. Ob dieses Weltbild durch eine Religion vermittelt wird oder durch Massenmedien, ist dabei unwichtig. Wichtig ist hingegen, dass es Gemeinschaft stiftet. Unsere demokratische Wissensgemeinschaft bröckelt. Nicht erst seit der Coronakrise. Bei Kastner sind es die »Säulen der Dummheit«, die Schuld am Zerfall der Gemeinschaft sind.

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey gehen in ihrem im letzten Jahr erschienenen und »Sozialer Wandel, Sozialcharakter und Verschwörungsdenken in der Spätmoderne« betitelten Aufsatz noch eine Schicht tiefer als Kastner. Sie wollen verstehen, wie es dazu kam, dass die Emanzipation des spätmodernen Individuums dazu geführt hat, dass sich einige dieser Individuen jetzt antiaufklärerisch verhalten. Sie bringen es auf eine paradoxe Formel: »Wir wissen zwar immer mehr, aber als Individuum immer weniger davon.«

Immer mehr neues Wissen lasse die Welt auch immer komplexer erscheinen. Und damit würden auch die Möglichkeiten des Nicht-wissen-Könnens vermehrt. Genau dieser Zustand kratze am Selbstverständnis des emanzipierten Individuums, das davon ausgehe, dass Autorität dazu da sei, angezweifelt zu werden. Was kann ein Experte schon wissen, fragt es sich, was ich nicht wissen kann? Der österreichische Kulturjournalist Thomas Edlinger spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer »postautoritären Persönlichkeit«.

Krisen setzen laut Amlinger und Nachtwey in diesen Individuen eine »Hermeneutik des Misstrauens« gegenüber Experten frei. Das eigene Nichtwissen greift die Souveränität der spätmodernen Subjekte tief in ihrem Selbstverständnis an. Und Experten werden so zur Projektionsfläche des Misstrauens. Ob das nun Lehrkräfte, Politiker, Ärzte, Epidemiologen oder die Wissenschaften im Allgemeinen sind, spielt dabei keine Rolle.

Diese Hintergründe lässt Kastner in ihrem Buch außen vor. Sie reitet mit ihrem ausdifferenzierten Begriff der Dummheit eine beherzte, polemische Attacke gegen Esoteriker, Corona-Leugner, Impfgegner und deren Versteher. Scharf, klug und treffend. Und es gelingt ihr, eine klare Grenze aufzuzeigen. Tausende Menschen ohne irgendeine wissenschaftliche Qualifikation nähmen sich heraus, hoch qualifizierte Ärzte zu belehren, wie man Bluthochdruck, Diabetes oder Migräne behandeln müsse. Aber: »Kaum einer würde bei einem offenen Unterschenkelbruch auf das ›bewährte Hausmittel der Tante Anni‹ oder auch den kürzlich auf Facebook gelesenen Ratschlag zurückgreifen, Zinksalbe aufzulegen, um das Bein mit einem metallischen Schutzmantel zu stabilisieren.«

Die Lektüre von Heidi Kastners schmalem Büchlein lohnt sich und wirft beim Lesen viel Genugtuung sowie Wissenszuwachs ab. Und auch ein bisschen Selbsterkenntnis.

Heidi Kastner: Dummheit. Kremayr & Scheriau. 112 S., geb., 18 €.

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