Die unkontrollierbare Kraft

Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow fürchtet Regimegegner aus dem türkischen Exil

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 3 Min.

Glaubt man den tschetschenischen Behörden, geht es Sarema Musajewa ganz hervorragend: Die am vergangenen Donnerstag aus Nischni Nowgorod von tschetschenischen Sicherheitskräften entführte Mutter des Menschenrechtlers Abubakar Jangulbajew soll drei Mal täglich warmes Essen bekommen, werde ausreichend mit Insulin versorgt und habe sich bisher über nichts beschwert, erklärte der tschetschenische Ombudsmann für Menschenrechte, Mansur Soltajew, am vergangenen Freitag nach einem Besuch der Verschleppten in einem Gefängnis des Innenministeriums der Kaukasusrepublik. Doch an dieser Darstellung gibt es erhebliche Zweifel: Musejewa sei der Kontakt mit einem Anwalt aus »Quarantänegründen« untersagt worden, meldet das russische Komitee gegen Folter. Am Sonnabend habe sie in einem von den tschetschenischen Behörden verbreiteten Schreiben offiziell auf einen Juristen verzichtet. Die Menschenrechtsaktivisten bezweifeln, dass die Erklärung aus freien Stücken verfasst wurde. »Wir haben wiederholt ähnliche Fälle erlebt, in denen Druck auf den Angeklagten ausgeübt wurde«, heißt es im Telegram-Kanal der Organisation.

Während das weitere Vorgehen der tschetschenischen Behörden unklar bleibt, enthüllen Recherchen der Journalistin Jelena Milaschina von der »Nowaja Gaseta« nun die Hintergründe der Verschleppung von Sarema Musajewa. Ihre Entführung sei der bisher bekannteste Fall einer Repressionswelle gegen Angehörige von Kritikern des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow, schreibt die kremlkritische Zeitung aus Moskau.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Milaschina zufolge, die sich seit Jahren mit der Situation in Tschetschenien befasst, seien in der Nacht auf den 22. Dezember 2021 Dutzende Familienmitglieder von fünf im Exil lebenden Oppositionellen - darunter auch minderjährige Kinder - aus ihren Häusern und Wohnungen verschwunden. Anrufe und Kontaktanfragen seien ohne Reaktion geblieben. Kadyrow habe die Angehörigen als Geiseln genommen, um seine Gegner zum Schweigen zu bringen.

Im Gegensatz zu diesen Repressionen habe die dreiste Entführung von Sarema Musajewa - Ehefrau des Richters Sajda Jangulbajew, der unter besonderem Schutz des Inlandsgeheimdienstes FSB steht - jedoch für mehr mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Viele Russen reagierten empört. Die tschetschenischen Behörden mussten sich erklären.

Die Jangulbajews seien Terroristen und stünden hinter einem Anschlag auf einen tschetschenischen Beamten in der Türkei, erklärte Republikoberhaupt Ramsan Kadyrow Ende der vergangenen Woche. Tatsächlich kursiert in sozialen Netzwerken ein Video, das aller Wahrscheinlichkeit nach zeigt, wie ein ehemaliger Sicherheitsbeamter Kadyrows im vergangenen Herbst von Unbekannten in der Türkei verprügelt wird. Das Land am Mittelmeer ist unter tschetschenischen Sicherheitskräften sehr beliebt: Viele verbringen in der Türkei ihren Urlaub, lassen sich dort im Rentenalter nieder oder kaufen Häuser.

Doch auch viele Gegner der Herrschaft von Ramsan Kadyrow leben in der Türkei. Das Video mit den Prügelszenen stammt beispielsweise aus dem Telegramkanal Security Turkey, der Informationen über von Kadyrow in das Land entsandte Killerkommandos veröffentlicht, hochrangige Vertreter Kadyrows in der Türkei aufspürt und über die Villen und andere Immobilien von Kadyrows Entscheidungsträgern informiert. Die Macher des Kanals sollen Beziehungen bis in Kadyrows direktes Umfeld unterhalten, wie sich aus veröffentlichten vertraulichen Dokumenten schließen lässt. »Ramsan Kadyrow hat es zum ersten Mal mit einer Kraft zu tun, die er nicht kontrollieren kann«, schreibt Milaschina. Besonders beunruhigt sei er von der Festnahme zweier tschetschenischer Killer im vergangenen Herbst durch den türkischen Geheimdienst. Dieser war auf die Tschetschenen durch Fotos aufmerksam geworden, welche Security Turkey zuvor veröffentlicht hatte. Kadyrow reiste daraufhin in die Türkei, besuchte mehrere Touristenhochburgen und gab anschließend seinen Beamten im tschetschenischen Fernsehen Entwarnung: »Hier gibt es nur nette Menschen«, so Kadyrow, »und keine Schaitane.« Anschließend begannen die Repressionen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.