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Undercover-Marxismus in Manhattan
In seinem Buch »Die andere Seite« beschäftigt sich der Historiker Wolfgang Schivelbusch mit der Variante des Kapitalismus in den USA. Doch die Rolle der Sklaverei bleibt dabei mindestens unterbelichtet
Weil »Die andere Seite« so unentschieden ist - ein Gesprächsband als Ersatz für Memoiren; eine Einführung in Leben und Werk eines Autors; irgendwie auch ein Epochenporträt - muss man noch einmal deutlich machen, wer darin eigentlich spricht: Es ist Wolfgang Schivelbusch, ab Ende der 1970er Jahre der inspirierendste, und wohl auch inspirierteste, deutschsprachige Historiker außerhalb der Akademie. Dabei war er ja eigentlich gar kein Historiker, sondern promovierter Literaturwissenschaftler, der zudem nie eine Beamtenlaufbahn angestrebt hatte und sich auch nur selten im Feuilleton mit kontroversen Debattenbeiträgen zu Wort meldete.
Geschichtsschreiber des Alltäglichen
Schivelbuschs (so nie geplante) Trilogie über die Geschichte der alltäglichen Dinge und der uns so selbstverständlichen Infrastruktur, in die sie eingebettet sind, konnte man als eine denkbar ungezwungene, nachgerade lässige Alltagsgeschichte des Kapitalismus verstehen: Zwischen 1977 und 1983 erschienen Schivelbuschs Bücher über die Geschichte der Eisenbahn, der Genussmittel und schließlich der künstlichen Beleuchtung. »Jedes Industrieprodukt ist ein Akteur, der durch seine bloße Benutzung Millionen von Menschen in ihrem körperlichen und geistigen Sinn nachhaltiger formt und beeinflusst als alle Talkshows und Politikerreden zusammen«, fasst der heute 80-Jährige im Gespräch sein Credo zusammen. Im Gegensatz zur Technik- oder Materialgeschichte ging es dem Literaturwissenschaftler um »Menschengeschichte in einer technisierten Welt«, um die Beschreibung der Gattung als »Homo industrialis«. Das hat ihn berühmt gemacht, diese Bücher werden bis heute aufgelegt und gelesen. »Denn nicht die reinen Geistesprodukte der Kunst, Literatur und Philosophie interessierten mich, sondern das Leben des Geistes in der materiellen Realität« - so lautet einer der vielen rückblickenden Sätze Schivelbuschs, mit denen er, sich wohl selbst ein wenig rätselhaft findend, sein eigenes Werk umkreist.
Sein neuestes Buch »Die andere Seite« möchte nun die Geschichte hinter den Büchern erzählen; die Geschichte, wie Schivelbusch auf die Ding-Geschichte kam, wieso es ihn unwiderruflich von dieser wieder wegführte und er zu einem Mentalitätshistoriker der Niederlagen und des Untergangs wurde. Sein letztes wirklich großes Werk »Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939« von 2005 intervenierte - was der Autor selbst vermutlich gar nicht mitbekam - sogar in damalige Szenediskussionen der hiesigen Linken. Die spleenige, aber von Antideutschen seinerzeit dominant und aggressiv vertretende Ansicht, dass der amerikanische Liberalismus der absolute Gegenspieler des Nationalsozialismus wäre, zerbröselte gleichsam nach der Lektüre von Schivelbuschs Werk.
Man muss diese Verdienste nicht deshalb so herausstreichen, weil sie so lange zurückliegen, sondern weil das Gespräch in »Die andere Seite« allzu stur chronologisch voranschreitet und sehr häufig gerade dann, wenn Schivelbusch zu spekulativen Höhenflügen ansetzt, schlicht abbricht. Dadurch bleiben zu viele Themen an der Oberfläche und kommen diejenigen Leser*innen, die Schivelbuschs Werk jetzt kennenlernen wollen, nicht richtig dahinter, was dessen Magie nun eigentlich ausmacht. Magie ist dabei nicht schwärmerisch gemeint: Seinen Materialismus der Dinge und der Gegenständlichkeiten überspannt Schivelbusch ganz bewusst ins Magische, bis durch diese Verfremdung qua »Zoom ans Detail« die geistige Realität des Materiellen - um seine Formel umzudrehen - deutlich wird. Eben das ist der Grund, warum Schivelbusch, der in der Linken nie wirklich gehyped wurde, dennoch in den späten 70ern zu einem ihrer Lieblingsautoren werden konnte: Sein Undercover-Marxismus löst Verdinglichungen auf.
Immerhin liefert »Die andere Seite« schöne Details - und für seine Liebe zu diesen ist Schivelbusch doch eigentlich bekannt: Dass er immer einen Bogen um Theorie gemacht habe, dass er seinen »Kapital«-Kurs 1968 bei Hartmut Lange absolvierte, wo er seine eigenwillige Sichtweise auf Gebrauchs- und Tauschwert schärfen konnte, dass er recht spät die griechischen Atomisten kennenlernte und sich in deren fantastisch-spekulativen Materialismus wiederentdeckte. Moment mal! Hartmut Lange gab einen »Kapital«-Kurs? Der Hartmut Lange, gefallener Engel der DDR-Literatur und im Westen später bekannt als verkniffen-kulturkritischer Grübler? Für diese Geschichte hätten sich doch weit mehr Leute interessiert als Schivelbusch sich vorstellen mag.
Sicher, diese Details sollen nun nicht von dem zentralen Thema des Buches ablenken, das sich bei weiterem Lesen immer deutlicher herausschält. Es geht um Schivelbuschs Zeit in New York; über 40 Jahre - bis zu seiner endgültigen Rückkehr nach Berlin 2014 - verbrachte er hauptsächlich in Manhattan, schrieb dort alle seiner wichtigen Bücher, hervorgebracht durch eine biografische Verfremdung: Der einzelgängerische 68er mit bürgerlichem Background findet sich in einem Milieu wieder, das so kapitalistisch ist, wie es die Theorie beschreibt und dennoch die bekannten Koordinaten des westdeutschen Linken auf den Kopf stellt.
Kapitalismus ohne Proletariat?
Schivelbusch leitet diese Irritation aus einem anderen Technikverständnis ab, das in die Gründungsmythen der USA eingegangen sei: »Die Neuankömmlinge auf dem menschenleeren Kontinent mussten dann nur noch einen Ersatz für die fehlende menschliche Arbeitskraft finden. Das wurde die Technik. In Amerika wurde die Maschine das technische Alter Ego des Menschen, ohne das er nicht überleben konnte. Trat die Maschine in Europa auf als Konkurrentin des Arbeiters und Zerstörerin seiner Lebensgewohnheiten, so eröffnete sie ihm in Amerika ein Schlaraffenland.« Menschenleer war das Land freilich nicht gewesen, es wurde erst zu einem solchen gemacht: Die Ureinwohner, die »First Nations« mussten verschwinden. Ihre Verdrängung war laut Schivelbusch »der Preis für die amerikanischen Gleichheit und Demokratie, die seitdem das Objekt der Bewunderung und des Neides der Demokraten in Europa ist. Ein Preis, den nicht die europäischen Einwanderer bezahlten, sondern die Ureinwohner - und nach deren Auslöschung natürlich die aus Afrika importierten schwarzen Sklaven. Die waren das Gründungskapital.«
Diese Passage ist der gesellschaftskritische Höhepunkt des Buches, in dem der Autor später doch noch mit recht großer Sympathie über die Würde der Südstaatler nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg sprechen wird. Dieser Höhepunkt lässt einen zugleich irritiert zurück, denn es ist die einzige Passage, in der überhaupt Schwarze vorkommen, und schon hier wirkt die Erwähnung der versklavten Menschen wie ein Anhängsel des eigentlichen Gedankenganges. Schivelbuschs These lautet, dass der so reine amerikanische Kapitalismus eine Art universelle Mittelklasse hervorbringe, keinesfalls aber ein dauerhaft rebellisches Proletariat. Die Voraussetzung dieser Nivellierung des Klassenwiderspruchs sei die Vernichtung der potenziellen Unterklasse. Klingt plausibel, geht aber nicht auf: Die Schwarzen - zunächst als Sklav*innen, dann als Kern der lohnarbeitenden Bevölkerung - stellen doch diese angeblich fehlende Klasse! Hierzu ein Beispiel: Die US-amerikanische Automobilindustrie in Detroit »verschlief« Ende der 1960er Jahre den - wie sich herausstellte, entscheidenden - technologischen Entwicklungssprung, weil es preisgünstiger für sie war, massenhaft schwarze Arbeiter*innen zu verschleißen, als umfänglich in technische Neuerungen zu investieren. Statt Automation also »Niggamation«, wie es die Belegschaften der Autohersteller voll bitterem Sarkasmus nannten. Schivelbuschs These von der Maschine als selbstverständlichem Vehikel zur Beförderung ins Schlaraffenland der Mittelschicht trifft also für eine entscheidende Phase der amerikanischen Nachkriegsgeschichte nicht zu. Mehr noch, er blendet die Verschränkung von Kapitalismus und Rassismus aus.
Rassismus als Leerstelle und Ontologie
Unwillkürlich fällt einem hier eine Passage aus Frank B. Wildersons Buch »Afropessimismus« ein: »Ich, als Schwarze Person (…), bin vom Ausgang der gesellschaftlichen und geschichtlichen Erlösung ausgeschlossen und werde gleichzeitig dafür gebraucht, dass Erlösung irgendeine Form von Kohärenz erlangen kann«. Und an anderer Stelle schreibt er: »Schwarze und Nicht-Schwarze existieren nicht im selben Universum oder im selben Paradigma der Gewalt, genauso wenig wie Fische und Vögel im selben Weltenelement leben.« Liest man »Afropessimismus« auf eine Ökonomiekritik hin, zuckt man allerdings zurück: Wilderson entwirft eine Ontologie des Rassismus, keine Dialektik - Geschichte als Klassenkampf findet bei ihm nicht statt. Entdeckt man nun aber beim Lesen von »Die andere Seite«, dass selbst ein so unbestechlicher Beobachter wie Wolfgang Schivelbusch den Ausschluss der Schwarzen mitvollzieht, indem diese in seiner Kapitalismus-Saga eigentlich nicht vorkommen, dafür aber die »melancholischen Südstaatler«, ist zu befürchten, dass Wilderson doch Recht haben könnte...
Wolfgang Schivelbusch: Die andere Seite
Leben und Forschen zwischen New York und Berlin. Rowohlt, 336 S., geb., 26 €.
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