- Kultur
- Dieter Mann
Sprache wie ein Funkenschlag
Zum Tod des großen Schauspielers Dieter Mann
Wer Schauspiel betreibt, übertritt ein religiöses Urgebot: Du sollst dir kein Bildnis machen! Vom Bildnis aber lebt Theater. Und just der Narr ist Gott. Die Schöpfung als Stunde der Gaukler. Theater ist Gleichzeitigkeit von Geburt und Tod und das jeden Abend. Diese Leute im Scheinwerferlicht sind Kühnste der Gattung: Schauspielerei bedeutet Enthüllung des uns Eingeborenen. Die Bühne bleibt der Ort, wo der Mensch verhältnismäßig ungeniert darüber Auskunft geben darf, dass er nicht fliegen kann. Im Leben ist es uns nicht immer erlaubt, dies so frei zu gestehen.
Eines Tages trat auch der 1941 geborene Dieter Mann aufs Ausdrucksfeld, legte los, legte bloß, gab seinen Körper, seinen Kopf. Zur Qualität seiner Kunstausübung wurde: Geist. Entwicklung hieß: Er schweißte sein Ungebärdiges zusehends ein. Aber blieb Berliner: scharf, schnell, schnoddrig. Rosows Wolodja, Lessings Tempelherr, Goethes Clavigo, Plenzdorfs Wibeau, Shakespeares tragische Charaktere, Tschechows zynische Herren. So viele Jahrzehnte Deutsches Theater Berlin, Schumannstraße 13 a.
Der Emporkömmling Lopachin in Tschechows »Kirschgarten« (Regie: Friedo Solter): Der Schauspieler offenbarte die Merkwürdigkeit eines Bäuerlichen, der den eigenen Aufstieg gleichsam bremsen möchte, weil er fühlt, dass Besitz seine Seele tötet. Oder Hörder, der deutsche Soldat vor den Toren Moskaus, der sich in bitterschlimmer Schlacht zu den Idealen Hölderlins bekennt, das Unrecht dieses Hitler-Feldzugs erkennt und im großen ethischen Protest sein Leben opfert (Bechers »Winterschlacht«, Regie: Alexander Lang). Schauspiel als hohe Gedankenlyrik - eine großartige Fortsetzung dessen, was einst Ekkehard Schall bei Brecht am Berliner Ensemble gespielt hatte.
Oder der Wehrhahn in Hauptmanns »Biberpelz« (Regie: Thomas Langhoff): blutleer, böswindig, Beamter eben, Untertan, der sich als Para-Graf aufspielt- noch die Fingerspitzen züngelnde Peitschen. Dieter Mann konnte ganze Stücke zwischen seinen Lippen zusammenpressen, bis sie ihren Wesensschrei ausstießen. Er malmte den Text nicht, ein kurzer Biss quasi, der genügte, und Sprache war gepackt in ihrem Kern. Und dann sprangen die Sätze spitz und durchschlagend wie Funken von den Zähnen. Oder er spuckte das Wort grinsend aus wie einen Dartpfeil: bohrende Grüße aus einem Gletscherbezirk.
Dieter Mann, der Schüler, dann Gefährte von Wolfgang Heinz und vor allem Friedo Solter, war von 1984 bis 1991 Intendant. Der Anfang: Gerade war das Großprojekt »Faust. Zweiter Teil« gescheitert (Regie: Friedo Solter, Titelrolle: Alexander Lang, Mephisto: Dieter Mann) und das Ensemble ob dieser Aufgabe in Lager zerrissen. Der damalige Intendant Rolf Rohmer, ein Wissenschaftler, musste wegen allumfassender Fremdheit in der Theaterpraxis wieder gehen. Manns Berufung auf den Intendantenstuhl war ein Sieg des DT-Ensembles - dessen künstlerische Anziehungskraft so legendär war wie sein Abstoßungswille gegen »Eindringlinge«.
Das Ende dieser Intendanz: rodelnde, triste DDR-Endzeit; aber Alexander Lang, Frank Castorf und Heiner Müller, Thomas Langhoff und Rolf Winkelgrund am Haus! Eine Wende nicht ohne Wunden, doch Manns Leitung muss als klug, uneitel, konzentriert, unspektakulär eingestuft werden, und sie hat ihren guten Platz in der Geschichte des Hauses. Wahrscheinlich bestand diese Klugheit wesentlich darin, das eigene Ethos zu behaupten, aber es keinen Augenblick als allgemeines Gesetz den anderen aufzudrängen.
Der »Wallenstein« am Staatsschauspiel Dresden, 1999 (Regie: Hasko Weber). Mann war bezaubernd zynisch und unangenehm jovial, berückend selbstgerecht und mit Dämonie sympathisch. Inmitten der Erhitzungen und Exaltationen des Dramas blieb dieser Militär ein Minimalist der Emotion. Oder ein Maximalist des Schmallippigen. Der Feldherr als Philosoph. Eine Stimmlage, gerade gezogen wie eine Schwertschneide; wo Anteilnahme sich anstaute, wurde sie selbstquälerisch zurückgepresst.
2003: Am Deutschen Theater spielt, spricht Dieter Mann das Kapitel »Fülle des Wohllauts« aus dem Roman »Der Zauberberg« von Thomas Mann (Regie: Marcus Mislin). Ein Mensch reist in enorm gesteuerten Atemzügen durch Thomas-Mann-Sätze: mit frech verzwirbelter Grandezza, ironisch ausgelegter Pusseligkeit - von Nebensatzlabyrinth zu Nebensatzstollen, aus gestelzten Höhen in grollende Tiefen. Dieser Schauspieler, einer der besten deutschen Literaturleser, wusste sehr wohl um die Wirkungen jener Distanz, zu denen ihn sein Naturell »verurteilte«. In den ernsten, strengen Verhärtungen seines Gesichts und den Furchen des Mundes hatte auch die Komik ihren Ort, bis hin zum »Kessel Buntes«, aber wenn die Züge verheißungsvoll entspannt flossen, dann ahnte man doch immer auch der Gestalten und Figuren Verletzlichkeit.
Zu Manns Charakter gehörte es, das ihm Unangemessene geradezu würdig zu missachten und in belästigenden Zumutungen preußisch unantastbar zu bleiben. Er verbreitete auch im Film- und Fernsehbetrieb, in Stoffen von Konrad Wolf und Erik Neutsch und Ulrich Plenzdorf, den Eindruck eines Künstlers, dem man den Beruf auf der Bühne ansah, nicht jedoch draußen, wo alle anderen Leute gern Theater spielen. Seine Kultur bestand im ehrenwertesten der Grundsätze: Zur Erscheinung wird man einzig und allein in dem, was man tut, nicht in dem, wie man tut. Den Rollen Manns hat dieses Ethos etwas schönes Irdisches bewahrt, in alles Edle war ein Faden grobes Leinen gewebt, und das heldisch Männliche behielt ein Gran Jungenhaftigkeit.
Dieter Manns Biografie: der Arbeiter als Künstler und der Künstler als Arbeiter. Der Acht-Klassen-Schüler hatte Dreher gelernt, ging zur Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. Poesie, Theater waren ihm früh eine hohe Festlichkeit. Er erzählte, er habe als junger Mensch dann, wenn er zu Hause eine Schallplatte hörte, nicht geraucht, sich ein weißes Hemd angezogen. Kunst, die Himmelsmacht. »Auf dem ersten Klassenfoto trug ich als einziger Junge Holzpantinen. Die anderen lachten. Ich war nicht mal Arbeiterkind, ich war Hilfsarbeiterkind.«
Das Ehrenmitglied des Deutschen Theaters konnte breit grinsen über das Glück seiner Berufung: Spiel uns vor, Gaukler, aber mach uns dabei nichts vor! Lustige Person zu sein ist die unmöglichste Versuchung der Welt. Denn es ist ein Signal durch die Flammen - aber kein Hilfeschrei nach dem Löschzug, sondern eine Einladung zu immer mehr Lodern. Gegen alles Frostige in der Welt. Auch wenn die Feuer irgendwann niedriger brennen. Ja, sagte Dieter Mann gern, am Ende, ganz am Ende fällt der Vorhang, und dahinter wird aufgeräumt.
Nun ist der große, wunderbare Schauspieler im Alter von 80 Jahren gestorben.
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