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Querdenken und der Zwang zur Freiheit
Jeja nervt: Die Coronaproteste treiben den Kapitalismus auf die Spitze
»Alle die von Freiheit träumen, / sollen’s Feiern nicht versäumen, / sollen tanzen auch auf Gräbern / Freiheit, Freiheit / ist das Einzige was zählt«. Der Song »Freiheit« von Marius Müller-Westernhagen gehört zu den beliebtesten Querdenken-Hymnen. Er war auch wieder prominent mit von der Partie, als die Querfront-Bewegung kürzlich gegen die andiskutierte Impfpflicht aufzog und dabei noch einmal mehr »Linke« zum Mitmachen animieren konnte.
Zwei Jahre reflexhaftes »Aber ihr marschiert mit Nazis, und das darf man nicht!« haben ihre Spuren hinterlassen: Übrig geblieben ist eine Linke, die der extrem agilen Protestbewegung jenseits klassischer politischer Zuordnungen weitgehend begriffsstutzig gegenübersteht. »Freiheit«, das ist irgendwie gut, und wer wollte nicht mal wieder sorglos ins Kino gehen, tanzen oder eine längere Zugfahrt ohne Kieferschmerzen erleben?
Freiheit ist auch der oberste Wert, den sich die parlamentarisch-demokratische Gesellschaftsordnung mit ihrer kapitalistischen Produktionsweise auf die Fahnen schreibt. Bloß formale Ungleichheiten wie Adel und Leibeigenschaft sind darin abgeschafft. Jeder kann es schaffen, heißt es, kraft der eigenen Arbeit. Dass das so einfach nicht der Fall ist und mit der formalen Freiheit auch die »Freiheit« von Lebens- und Produktionsmitteln einhergeht, hat Karl Marx in seiner Kritik deutlich gezeigt. So verwandelt sich diese Freiheit für die allermeisten Menschen in den Zwang, die eigene Ware Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen, um überleben zu können. Es gibt nun niemanden mehr, von dem Versorgung erwartet werden darf. Wir dürfen sie selbst übernehmen - und müssen es auch.
Im Spannungsfeld dieses Dürfens und Müssens der Versorgung und der Selbstbehauptung gegen andere tobt der gegenwärtige Konflikt zwischen Querdenker*innen auf der einen und dem kapitalistischen Seuchenstaat auf der anderen Seite. Der Staat besitzt darin immerhin die Vernunft, zu erkennen, dass die durch ihn hergestellten Marktbedingungen die Axt an die eigenen Grundlagen legen. Damit es weiterhin bürgerliche Subjekte geben kann, die fleißig und frei arbeiten gehen und so die endlose Bewegung der kapitalistischen Akkumulation am Laufen halten, dürfen sie schlicht nicht zu zahlreich dabei draufgehen. Aus dieser Furcht heraus entstanden die ersten Lockdowns im Jahr 2020.
Schließlich waren dann genügend Erfahrungen mit dem Virus gesammelt. Nun konnte mit flexibleren Corona-Maßnahmen ein austarierteres Verhältnis zwischen dem hinnehmbarem Sterben der Staatsbürger*innen einerseits und dem Fortlaufen der wirtschaftlichen Produktion unter »Freiheitsbedingungen« andererseits anvisiert werden.
Mit der Markteinführung von Antigen-Schnelltests und Impfstoffen konnte der in der Zwischenzeit an den Staat übergegangene Versorgungsauftrag wieder weitgehend an die Bürger*innen zurückverwiesen werden. Heute ist implizit selbst schuld, wer am Virus stirbt, sei es aus Dummheit oder körperlicher Schwäche. Einschränkungen der Marktfreiheit gibt es seither nur noch in dem Maße, in dem das nach wie vor nicht ganz zu kontrollierende Virus öffentliche Institutionen mit dem Zusammenbruch bedroht.
Die Freiheit also, die Querdenker*innen romantisieren und für die sie rebellieren, ist die Rückkehr des alten Zwangs zur autonomen Selbstfürsorge. Dabei ist es der Staat, der mit seinem juristischen Reglement die Enteignung der Menschen von ihren Lebensmitteln erst produziert, um sie dann auf seinen »freien« Markt der Selbstbehauptung zu zwingen. Das nehmen Querdenker*innen jedoch als Naturgesetz hin, nicht als menschengemacht.
In dieser autonomen, überdies männlich codierten Selbstfürsorge erscheinen andere Menschen vor allem als Instrument für das eigene Vorankommen. Als soziale Wesen sind Menschen aber auf Zärtlichkeit, Bindung und gegenseitigen Schutz zum Überleben angewiesen, erst recht in der Pandemie. Eine Tatsache, die lästig ist, wenn man Freiheit nur als wechselseitige Instrumentalisierung, als »Zwang zur Freiheit« kennt.
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