Die Stimmung auf den Straßen Kiews

Ukraine: Wie Hauptstadtbewohner und Forscher die Bedrohung durch russische Truppen einschätzen

  • Denis Trubetskoy
  • Lesedauer: 7 Min.

Während Präsiden Selenskyj stets die ukrainische Bevölkerung beruhigt, ist die Stimmung in der Hauptstadt Kiew in den letzten Wochen doch besorgter geworden. Ukrainische Experten halten einen großangelegten Einmarsch Russlands unverändert für unwahrscheinlich, die Gefahr an der Grenze aber für real. Die unterschiedliche Kommunikationspolitik Kiews und Washingtons sorgt dabei für Verwunderung.

Klitschko und die Bürgerwehr

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko hat diese Woche seinen Bruder und Ex-Boxweltmeister Wladimir ausgerechnet dann getroffen, als er die Arbeit eines Rekrutierungszentrums für die neu geschaffene und aus Freiwilligen bestehende territoriale Bürgerwehr checken wollte. »Ich wollte mir nur anschauen, wie die Beratungsarbeit mit den Freiwilligen läuft. Mein Bruder hat dagegen seine Dokumente übergegeben und hat sich der Bürgerwehr angeschlossen«, so der seit 2014 regierende Bürgermeister von Kiew. Das im Sommer 2021 verabschiedete und vor kurzem in Kraft getretene Gesetz über den nationalen Widerstand schaffte die Rechtslage für die de facto seit Beginn des Donbass-Krieges im Frühjahr 2014 existierenden Bürgerwehren.

Dank des Gesetzes dürfen Freiwillige wie Wladimir Klitschko einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschreiben, sich regelmäßig einer Militärvorbereitung unterziehen und gleichzeitig ihr ziviles Leben fortsetzen - im Falle des Krieges sind sie aber verpflichtet, ihren Wohnort zu verteidigen. Wegen des russischen Truppenaufmarsches an der Grenze zur Ukraine ist das mediale Interesse groß, die Trainingseinheiten der Bürgerwehre werden geradezu von Journalisten überrannt: Alle wollen wissen, wie sich die Ukrainer auf den Kampf gegen Putins Soldaten vorbereiten. Allerdings ist ausgerechnet die Einheit von Klitschko vor allem als PR-Aktion des Bürgermeisters ohne Absprache mit dem Verteidigungsministerium gegründet worden, das darüber verärgert war.

Empörung über Verteidigungsministerium

Das Verteidigungsministerium hat wiederum große Empörung mit einer Anordnung vom Dezember ausgelöst, nach der sich Frauen aus rund 100 Berufen, darunter Musikerinnen und Kulturwissenschaftlerinnen, bis Ende 2022 mustern lassen müssen. Die Regelung wird inzwischen überarbeitet: Die Anzahl der Berufe soll drastisch zusammengestrichen und die Strafen für die Nichteinhaltung der Deadline sollen abgeschafft werden.

Doch seit Anfang Dezember, als die ukrainische Gesellschaft noch vor allem über Darstellung einer Ukrainerin in der Netflix-Serie »Emily« in Paris diskutierte - sie wird unter anderem als Kleptomanin dargestellt -, hat sich die Stimmung auf den Straßen Kiews stark verändert. Von Panik oder Hamsterkäufen fehlt weiterhin jede Spur - Kiewer schmunzeln darüber, dass die Staus durch die Abreise einiger Ausländer etwas kleiner geworden sind. Die bis zu 130 000 russischen Soldaten, die sich nach ukrainischen Angaben in der Nähe der gemeinsamen Grenze befinden sollen, sind inzwischen jedoch das Gesprächsthema Nummer eins, obwohl der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stets versucht, die Bevölkerung zu beruhigen.

So sorgt sich Wiktorija, die Verkäuferin in einem Geschäft für Männerkleidung in dem Einkaufszentrums des Kiewer Randbezirks Obolon ist, um die medizinische Versorgung ihres herzkranken Vaters, der in einem Bezirk südlich von Kiew lebt: »Seine Stadt Solotonoscha ist zwar weit von der Grenze zu Russland entfernt, doch ich mache mir Sorgen, ob die nötigen Medikamente im Falle des Krieges rechtzeitig geliefert werden«, sagt sie.

Die Tanzlehrerin Karina Stez, Mitte 20, hat die Krim-Halbinsel nach der russischen Annexion im März 2014 verlassen - und nicht zuletzt aufgrund der persönlichen Erfahrungen Sorgen, obwohl sie an eine groß angelegte russische Invasion eher nicht glaubt. »Wir haben doch gesehen, wie inadäquat Russland agieren kann. Man kann leider von Moskau alles erwarten, ausschließen kann man nichts«, sagt die aus Sewastopol, dem Hauptstützpunkt der russischen Schwarmeerflotte, stammende Frau. Über das, was passieren könnte, wenn Russland tatsächlich angreift, will Stez gar nicht erst nachdenken.

Sorgen, aber keine Panik

»In der Ukraine gibt es durchaus Sorgen, doch keine Panik. Der Krieg im Donbass dauert schon fast acht Jahre und ist fast wie eine Impfung gegen sie. Die Zuspitzung kann ohnehin jederzeit kommen, man ist dafür längst mental vorbereitet«, sagt Petro Oleschtschuk, Politikwissenschaftler von der Kiewer Schewtschenko-Universität.

Die Linie des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, der mit Blick auf den Aufbau der russischen Truppen davon spricht, dass der Unterschied zu einem ähnlichen Truppenaufmarsch im Frühjahr 2021 minimal ist, halten die meisten ukrainischen Experten für pragmatisch. »Niemand bestreitet hier die Gefahr einer Eskalation, doch es gibt überhaupt keinen Grund, im achten Kriegsjahr irgendwelche apokalyptischen Szenarien zu malen«, meint Oleschtschuk.

Warum warnen US-Vertreter vor einer unmittelbaren Gefahr?

Für Heorhij Tschyschow, dem russischstämmigen ukrainischen Politologen und Koordinatoren der Expertengruppe »Europäischer Dialog« in Kiew, ist es aber unverständlich, warum die ukrainische Regierung und die vor einer unmittelbaren russischen Gefahr warnende US-Vertreter ihre Kommunikation immer noch nicht abstimmen. »Das ist eine seltsame und irgendwie einmalige Situation. Zum einen könnte es natürlich sein, dass die US-Geheimdienste schlicht mehr als ihre ukrainischen Kollegen wissen. Zum anderen ist es nicht ausgeschlossen, dass die Amerikaner die Gefahr gezielt größer darstellen, um präventiv zu handeln und Druck auf Russland auszuüben.«

Oleschtschuk erklärt sich die Meinungsverschiedenheiten dagegen durch die Tatsache, dass Selenskyj und US-Präsident Biden unterschiedliche Zielgruppen ansprechen: Selenskyj richte sich an Ukrainer und wolle negative Folgen für die ukrainische Wirtschaft vermeiden. Biden wolle die US-amerikanische Gesellschaft und europäische Länder von der Ernsthaftigkeit der aus Russland ausgehenden Gefahr überzeugen.

Olexander Chara, ehemaliger Diplomat und Experte des Zentrums der Verteidigungsstrategien, hat eine weitere Erklärung parat. »Präsident Selenskyj ist alles andere als sein Vorgänger, der erfahrene Politiker Poroschenko. Er ist ein emotionaler Mensch, der auch dem Westen oft das sagt, was er denkt. Und mit dem Ausmaß der westlichen Unterstützung der Ukraine zeigte er sich mehrmals öffentlich unzufrieden«, betont Chara. »Hinzu kommt, dass die Situation an der Grenze für die Ukraine tatsächlich nicht prinzipiell neu ist. Dass sich im letzten Frühjahr dort bereits eine ähnliche Truppenzahl befand, stimmt. Deswegen sieht Kiew keine besondere unmittelbare Gefahr. Es kann sein, dass die US-Geheimdienste mehr wissen. Man kann aber nicht völlig ausschließen, dass Teile ihrer Informationen in Wirklichkeit gezielte Desinformationsleaks der Russen sind.«

Eine vollständige Invasion durch Russland will Chara komplett nicht ausschließen. Er verweist darauf, dass bereits der erste Truppenaufmarsch im letzten Jahr vor allem damit zusammenhing, dass Selenskyj hart gegen die prorussische Opposition vorging, drei Nachrichtensender um den Putin-Verbündeten Wiktor Medwedtschuk sperren ließ und ihn als Vermittler um den Donbass-Krieg nicht mehr einsetzen wollte. Später kam ein Hochverratsverfahren dazu, Medwedtschuk befindet sich deswegen aktuell unter Hausarrest.

»Die militärische Kraft Russlands ist fast der einzige Weg geblieben, um Druck auf die Ukraine auszuüben«, sagt der ehemalige Diplomat Chara. Man solle zumindest in Erwägung ziehen, dass die Russen mit dem Gedanken spielen könnten, eine Stadt wie Charkiw nahe der Grenze anzugreifen und darauf zu hoffen, dass die patriotischen Kräfte in Kiew deswegen Selenskyj absetzen wollen. Dies würde ein breites Feld an Möglichkeiten eröffnen.

Das sei aber nicht das wahrscheinlichste Szenario. »Um einen Machtwechsel in der Ukraine zu schaffen, müsste man Kiew kontrollieren«, sagt Chara. Die an der Grenze zusammengezogenen Kräfte reichten aber für einen Angriff auf die Hauptstadt nicht. Selbst wenn die Russen Kiew im zerbombten, stelle sich die Frage, wie lange sie die Stadt unter Kontrolle behalten und wie sie Kiew mit anderen ukrainischen Gebieten verbinden können.

Viel wahrscheinlicher sei, dass Russland die wichtigen Schwarzmeerhäfen der Ukraine blockieren, Cyber- oder vielleicht sogar Terrorangriffe verüben und vor allem seine Aktivitäten im Donbass ausweiten könnte, um dadurch die Ukraine zu Kompromissen zu zwingen, zu denen sie bislang nicht bereit ist. »Das offensichtlichste Ziel ist die Ausweitung der Aggression im Donbass«, sagt auch Heorhij Tschyschow. »Im besetzten Gebiet läuft nicht zuletzt wegen der Ausgabe russischer Pässe längst die faktische politische und wirtschaftliche Annexion. Wir wollten nicht vergessen, dass die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in den Grenzen der entsprechenden ukrainischen Regierungsgebiete proklamiert wurden. Doch die Separatisten kontrollieren nur ein Drittel des Territoriums. Im schlimmsten Fall wäre die Ausweitung der Aggression auf den gesamten Donbass und die Anerkennung der Separatistenrepubliken durch Russland denkbar.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.