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Niemand bestimmt, wem die Erinnerung gehört
Die Probleme, die Gefühle: Mit »Wer wir sind« fragt Lena Gorelik nach jüdisch-russisch-deutschen Identitäten
Die meisten Migranten, das zeigen internationale Studien, verlassen nicht freiwillig ihre Heimat. Das gilt auch für Lena Goreliks jüdische Familie, die bis 1991 in St. Petersburg gelebt hat. Bis ihr Vater einmal in der Metro ein Erlebnis hatte, von dem er vorher dachte, das es ihm nie passieren würde. Ein Mann, der auf der Bank ihm gegenüber sitzt, putzt seinen Stiefel am Knie ihres Vaters ab, reibt, scheuert, genießt, spuckt Worte aus. Mein Vater sieht sich um. »Geh doch nach Hause, du Drecksjude! Geh doch nach Israel, da gehörst du hin!« Von da an, schreibt Gorelik in ihrem autobiografischen Roman »Wer wir sind«, stand für ihn fest zu gehen.
Dass es Deutschland wurde, war ein Zufall. Es hätte auch Israel sein können oder die USA. Als Lena Gorelik mit ihrem Bruder, ihren Eltern und der Großmutter 1991 in Berlin ankommt, ist alles anders, als sie es sich vorgestellt hatten. Denn die Mythen, die in der Sowjetunion über Deutschland kursierten, stellten sich als falsch heraus. Weder war die Seife teuer, die sie extra mitgeschleppt hatten, noch waren Parkas in Mode.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Die Familie landete in einem Flüchtlingslager in Baden-Württemberg. In den nächsten eineinhalb Jahren spielte sich das Familienleben auf zwölf Quadratmetern zwischen zwei Doppelstockbetten ab. Gorelik betont den Stacheldraht, der das Lager umgab, und sie tut es zu Recht, denn auch bei ihrer Familie und bei ihr ging es nicht um das bloße Überleben - für Essen und ein Dach über dem Kopf war gesorgt -, sondern um die Würde.
Die Mutter war Jahrgangsbeste unter den Petersburger Diplomingenieur-Absolventen gewesen, in Deutschland wurde ihr Abschluss nicht anerkannt. Erst musste sie als Putzfrau arbeiten, später machte sie eine Umschulung zur Buchhalterin. Ihr Vater, ebenfalls Ingenieur, zog mit einer Zeitarbeitsfirma als ungelernter Arbeiter jahrelang von einem Arbeitergeber zum nächsten, oft verbunden mit langen Arbeitswegen. »Er hat es satt«, schreibt sie über ihn, »diese Wechsel, die Erniedrigung, hat es satt, sagt nichts, steht einfach mit der Sonne auf.«
Und dann ist da noch St. Petersburg, die Heimat, die auch Lena Gorelik trauernd verlassen hat. Sie ist elf Jahre alt, verliert ihre Freundinnen und vor allem Asta, ihren geliebten Hund. Sie versteht die Sprache im neuen Land nicht, aber auch alles andere ist neu, muss erlernt werden. Eigentlich sollten die Eltern ihr das beibringen, aber die stehen genauso ratlos vor der neuen Welt wie sie. »Lernen Sie doch erst mal besser Deutsch«, bekommt ihre Mutter immer wieder zu hören. Es ist dann die Tochter, die die Sprache schneller lernt, akzentfrei spricht und im Restaurant immer bestellt.
»Ich schreibe meine Geschichte auf, Buchstaben, Worte, Sätze, in der Übersetzung geht mir die Hälfte verloren, vor allem die Hälfte Gefühl.« Manche Wörter belässt Lena Gorelik deshalb im russischen Original, mit kyrillischen Buchstaben, und erklärt sie in einem weiteren Satz. Babulja zum Beispiel, die Koseform von Babuschka, Oma. Bei anderen Dingen fällt es ihr schwer, sie zuzugeben. »Wie ungern ich diese Liebe zugebe, die zu den Birken. Als wäre ich damit ein deutsches Klischee.«
Inzwischen sind fast 30 Jahre vergangen. Erzählt sie zu viel, zu wenig - was erzählt sie? »Niemand bestimmt, wem die Erinnerung gehört, also zerren wir an ihr. Zerriebene Seile, Furchen an den alten Händen. Aufgedunsene Vergangenheit, die jetzt in den Fingern meiner Mutter steckt. Die Finger kann meine Mutter nur noch schwer bewegen. Einmal die Woche geht sie zur Ergotherapie.«
»Wer wir sind« ist ein berührendes Buch. Lena Gorelik gelingt es, ihre ganz eigene Geschichte so zu erzählen, dass sie auch den seit Generationen hier lebenden Deutschen nahegeht. Die Probleme, die Gefühle, die Gorelik, die ihre Eltern haben, sind ähnlich. Und die Frage nach der Identität stellt sich bei ihr nur auf eine andere, auf eine schmerzhaftere Weise.
Lange hat sie versucht, sich von ihrer eigenen Vergangenheit, von ihren Eltern abzugrenzen, um dann ihre Herkunft als Teil ihrer Identität anzunehmen. »Ich schmeiße mit den großen Begriffen um mich, auch um mich von dort, wo ich herkomme, zu distanzieren. Grün gefärbte Haare, bedeutungstriefende Sätze, aber nichts davon reicht. Es bleibt für immer an mir kleben. Das Wohnheim, die russischen Sätze, der Eigengeruch. Wie lange dauert es, bis ich sagen kann, zum Glück.«
Lena Gorelik: Wer wir sind. Rowohlt Berlin, 320 S., geb, 22 €.
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