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Omikron und weiter
Evolutionsforschung liefert keine eindeutige Antwort zur Entwicklung der Pandemie
Die rasante Ausbreitung der Omikron-Variante von Sars-CoV-2 seit Dezember vergangenen Jahres lässt so manchen hoffen, dass damit die Evolution des Virus an ihre Grenzen gekommen ist. Denn das Virus ist inzwischen noch ansteckender geworden, bei gleichzeitig vergleichsweise mildem Krankheitsverlauf. Für Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel bedeutet das, »wir gelangen mehr und mehr an einen Punkt, an dem fast jeder eine gewisse Immunität hat - entweder durch Impfung oder Infektion«. Doch das Auf und Ab sei noch zu schnell und die Zahl der Immunnaiven noch zu groß, um schon von einer endemischen Lage sprechen zu können.
Ohnehin zeigt die bisherige Mutationsgeschichte von Sars-CoV-2 sehr deutlich, wie wenig wir noch immer über die Evolution dieses Virus wissen. Als sich um die Jahreswende 2020/2021 in Großbritannien die inzwischen Alpha genannte Variante durchsetzte, erwarteten viele Virologen, dass sich ein neuer Virustyp aus Alpha entwickeln werde. Zusätzlich zu den Mutationen, die die Ansteckung beschleunigten, könnte das Virus noch Mutationen aufnehmen, die die Immunreaktion umgehen. »Doch das war absolut nicht der Fall«, sagt der Virologe Paul Bieniasz von der Rockefeller University New York im Fachjournal »Nature«. Die nächste, noch erfolgreichere Mutante Delta hatte sich aus einem älteren Typ entwickelt. Das Gleiche bei Omikron: Hier erwarteten die Forscher eine Weiterentwicklung von Delta, doch Omikron ist näher mit Alpha verwandt.
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Für das Virus ist evolutionärer Erfolg, wenn es sich in einem neu eroberten Wirt möglichst weit verbreiten kann. Dafür gibt es zwei Entwicklungspfade: Es kann infektiöser werden, indem es sich schneller vermehrt und so auf möglichst viele neue Wirte überspringen kann. Das passiert vor allem in der Anfangsphase einer Pandemie, wenn es noch unzählige potenzielle Wirte gibt, deren Immunsystem nichts von der neuen Bedrohung »weiß«. Wenn erst mal sehr viele potenzielle Wirte eine Infektion überstanden haben oder geimpft sind, dann ist ein zweiter Weg erfolgversprechender: Mutationen, die jene Merkmale des Virus verändern, auf die das Immunsystem des Wirts programmiert wurde - im Falle von Sars-CoV-2 also das Spike-Protein. Diese Veränderung hat allerdings Grenzen. Wenn sich das Spike so verändert, dass es nicht mehr an den Rezeptor der Wirtszelle passt, kann sich das Virus nicht mehr vermehren.
Der erste Weg - die schnelle Vermehrung - ist oft mit schwereren Erkrankungen verbunden. Für das Virus kann das zum Hindernis werden. Wird der infizierte Wirt schnell so krank, dass er kaum noch Kontakte hat, kann sich das Virus nicht mehr weiterverbreiten. Es kann also vorteilhaft sein, wenn es sich weniger schnell vermehrt und einen längeren leichten Krankheitsverlauf auslöst, währenddessen der Infizierte weitere Wirte anstecken kann. Das ist in etwa der Zustand bei den seit Langem endemischen vier Humanen Coronaviren, die nur noch leichte Erkältungen auslösen.
Doch das muss beim aktuellen Pandemie-Virus keineswegs so ablaufen. So sind neue Stämme der Influenzaviren, die die saisonale Grippe auslösen, zwar auch immer wieder so mutiert, dass sie vom Immunsystem nicht mehr richtig wiedererkannt werden können - also ihr Antigen verändern -, doch sind sie nicht zwangsläufig harmlos.
Bislang wurden die beiden Evolutionspfade meist getrennt untersucht. Doch kürzlich veröffentlichte ein Forscherteam um Akira Sasaki von der Graduate University for Advanced Studies in Hayama (Japan) eine Arbeit, die die Wechselwirkung der beiden Evolutionspfade untersucht. Die Autoren kommen in Modellrechnungen zu dem Schluss, dass bei wiederholten Epidemiewellen infolge veränderter Virus-Antigene zugleich auch virulentere Erreger entstehen können.
Auch der Basler Forscher Neher meint, die Schwere zukünftiger Wellen lasse sich im Moment noch nicht abschätzen. »Es könnte schlimmer oder auch weniger schlimm als die typische Grippewelle sein.« Die Entstehung von Varianten, die uns wieder zurück auf Punkt null führen, hält Neher jedenfalls für sehr unwahrscheinlich. »Unser Immunsystem erkennt und bekämpft das Virus nicht nur mit Antikörpern, sondern auch mit seinen T-Zellen. Und diese T-Zell-Immunität ist für das Virus sehr viel schwieriger zu umgehen, weil unsere T-Zellen im Gegensatz zu Antikörpern das Virus an vielen unterschiedlichen Teilen erkennen. Darüber hinaus erkennen die T-Zellen verschiedener Menschen das Virus an unterschiedlichen Stellen.« Angesichts der Variabilität der T-Zell-Abwehr von Mensch zu Mensch wären T-Zell-Flucht-Mutationen wenig effektiv. Auch bei den Antikörpern werde sich mit der Zeit mehr Diversität ansammeln, ist sich Neher sicher. Je mehr Menschen sich mit unterschiedlichen Varianten des Virus infiziert haben oder geimpft wurden, desto weniger bringen Immun-Flucht-Varianten.
Neher gibt aber auch zu bedenken, dass der Übergang von der Pandemie zur Endemie - also die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen dem Virus und uns Menschen als Wirt - kein Grund wäre, sich beruhigt zurückzulehnen. Endemisch bedeute nicht zwangsläufig mild - das Poliovirus verursachte zum Beispiel eine schwere Krankheit und war endemisch. Das Gleiche gilt in vielen Ländern für Malaria oder Tuberkulose. Der Virologe Aris Katzourakis von der Universität Oxford beklagte Ende Januar in einem Kommentar im Fachblatt »Nature« den »weit verbreiteten rosigen Irrglauben, dass sich Viren im Laufe der Zeit so entwickeln, dass sie harmloser werden«.
Mit der zunehmenden Zahl von Infektionen mit der Omikron-Variante wäre es zudem gut möglich, dass die Immunität gegen die Delta-Variante wieder abklingt. Und laut Neher sieht es so aus, als würde eine Infektion mit Omikron nicht gut vor Infektion durch Delta oder andere Varianten schützen - zumindest dann, wenn vor der Infektion noch keine Immunität gegen Delta bestand. Und Delta ist nicht nur hochansteckend. Diese Mutante führt öfter zu schweren Verläufen. Deshalb hält Neher Impfungen für einen erfolgversprechenderen Weg, sich selbst vor schweren Erkrankungen zu schützen, als eine Infektion mit Omikron. Zumal auch bei Omikron noch nichts über eventuelle Langzeitfolgen bekannt ist.
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Eines allerdings werden Impfungen mit den aktuellen Impfstoffen wohl nicht mehr leisten können: die Pandemie beenden. »Wir haben diese Geschwindigkeit (der Ausbreitung) noch nie zuvor gesehen, und das bedeutet, dass man sich nicht mit Impfungen davor schützen kann«, wird Christina Pagel vom University College London in »Nature« zitiert. »Selbst wenn man alle impfen könnte, dauert es immer noch zwei Wochen, bis der Impfstoff wirkt, und dann ist man schon mittendrin.«
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