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Dichtung und Wahrheit
Brauchen Parlamente Poeten? Und wofür? Über Geist und Macht heute
Braucht es hierzulande einen Parlamentspoeten oder eine -poetin, fragt sich dieser Tage das Feuilleton. Den Anstoß zu der Debatte gaben in der »Süddeutschen Zeitung« die Literaten Simone Buchholz, Mithu Sanyal und Dmitrij Kapitelman. Mit Blick auf Kanada, wo es ein solches Amt, den »Canadian Parliamentary Poet Laureate«, schon seit 200 Jahren geben soll, möge endlich auch in Deutschland die Politik poetischer und die Poesie politischer werden. Bemerkenswert: Illustriert war der Artikel nicht etwa mit einem Foto der aktuellen kanadischen Parlamentsdichterin Louise Bernice Halfe, sondern mit Amanda Gorman, die mit ihrem Gedichtvortrag bei der Inauguration des US-Präsidenten Joe Biden Menschen auf der ganzen Welt entzückte. Will heißen: Schon dem Aufruf »Dichterin gesucht« wohnte das erste Zugeständnis inne, an den Zeitgeist und die Publikumserwartung.
Voller Begeisterung zeigte sich auch die grüne Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt davon, »mit Poesie einen diskursiven Raum zwischen Parlament & lebendiger Sprache öffnen«. Derzeit liegt der Vorschlag dem Bundestagspräsidium vor. Das Thema ist also noch lange nicht durch. So wie das Parlament jedes Jahr einen nicht unerheblichen Betrag für Bildende Kunst ausgibt - im Reichstagsgebäude Ausstellungen organisiert, Bilder ankauft … -, ist im Hohen Haus ebenso ein Literaturstipendium vorstellbar. Doch wer auch immer in den Genuss der Apanage kommt, sollte das Geld nehmen - und daheimbleiben. Denn an kaum einem anderen Ort der bürgerlichen Gesellschaft wird Sprache derart misshandelt. Das mitzuerleben, dürfte sich nicht gerade inspirierend auf die Dichterseele auswirken. Was nicht heißen soll, dass man als Schriftsteller dort nichts lernen könnte …
Der Autor selbst kann davon berichten: Nachdem sich meine letzten Bücher nicht sonderlich verkauft hatten, Stipendien ausblieben und das Jobcenter die Daumenschrauben immer fester zog, fand ich bei Simone Barrientos, einer linken Abgeordneten, ein Auskommen; zwei Jahre auf einer halben Stelle. Dafür werde ich ihr immer dankbar sein. Doch an irgendwelche schöngeistigen Diskurse kann ich mich nicht erinnern. Eher an den Widerspruch von Geist und Macht, der mir im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus besonders deutlich wurde. Der Bundestag beherbergt hier auf fünf Etagen eine der weltweit größten Parlamentsbibliotheken. Wenn ich dort recherchiert habe, war ich so gut wie immer allein - mit zwei, drei Bibliothekarinnen, die sich über jeden Besuch freuten und hilfsbereiter nicht hätten sein können. Im großen Lesesaal sah man zu jeder Zeit Dutzende leerer Schreibtische. Meine These: Die allermeisten Volksvertreter lesen nicht, jedenfalls keine Bücher und schon gar keine Poesie. Für diese Leute sind Gedichte »Chichi«. Ein Parlamentsdichter, egal welchen Geschlechts, wird sich dennoch mit bestimmten Erwartungen konfrontiert sehen. Auch in Kanada hat Sky Dancer, so ihr indigener Cree-Name, bei speziellen Anlässen Texte zu schreiben und vorzutragen.
Überhaupt, die Währung, mit der in der Politik bezahlt wird, heißt Loyalität. Wohingegen es zum Wesen der Literatur gehört, dass sie politisch unzuverlässig ist; ein Schriftsteller hat Remmidemmi zu machen. Im Bundestag reden alle von Demokratie, wollen gestalten - und produzieren Hass. In der Linken war das nie anders: Der schlimmste Feind ist immer der Feind in den eigenen Reihen. Im vergangenen Herbst haben in der Linksfraktion übrigens 200 Mitarbeiter ihren Job verloren; von den Leuten, die dort auch weiterhin monatlich über 10 000 Euro Diäten einstreichen, hat das keinen interessiert. Das zu erleben, war für mich eine wichtige Erfahrung. Mit solidarischen Grüßen ...
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