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»Die Lage ist katastrophal und wird von Stunde zu Stunde schlechter«
Die Hilfsorganisation SOS-Kinderdörfer hat damit begonnen, Kinder im Donbass von beiden Seiten der Kontaktlinie zu evakuieren
Die Lage ist katastrophal und wird von Stunde zu Stunde schlechter. Wir helfen Kindern auf beiden Seiten der Front, der sogenannten Kontaktlinie. Seit ein paar Tagen hat der Beschuss dort stark zugenommen. Die Kontaktlinie brennt! Die von der Regierung kontrollierten Gebiete liegen unter schwerem Artilleriebeschuss. Der von prorussischen Kräften mit Artillerie beschossene Kindergarten in Stanyzja Luhanska liegt nur ein paar Hundert Meter von unserem Büro entfernt.
Konnten Sie bislang auf beiden Seiten der Front ungehindert arbeiten?
In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten hatten wir bislang kaum Probleme. Auf der anderen Seite der Kontaktlinie sind wir teilweise auf großes Misstrauen gestoßen. Uns wurde manchmal unterstellt, wir seien Agenten der Ukraine oder des Westens. Aber das ist absoluter Quatsch. Wir arbeiten streng nach den humanitären Prinzipien Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität. Wir stehen auf keiner Seite.
Kann SOS-Kinderdörfer trotz des Krieges weiterhin in den umkämpften Gebieten arbeiten?
Wir unterstützen derzeit 500 bis 600 Kinder in von der Regierung kontrollierten Gebieten und 300 bis 400 Kinder in Gebieten, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. Seit Beginn des Konfliktes haben wir bislang fast 80 000 Kinder, die in ihren Familien oder bei Pflegefamilien leben, unter anderem mit psychosozialer, materieller und pädagogischer Hilfe unterstützt. Unsere Mitarbeiter haben dazu am Checkpoint oft die Kontaktlinie überquert. Aber mittlerweile liegt auch dieser Checkpoint unter Beschuss. Wir hatten großes Glück, dass bislang niemand von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der Arbeit verletzt oder getötet wurde. Um ihr Leben so gut wie möglich zu schützen, haben wir die Besuche bei den Pflegefamilien mittlerweile schweren Herzens einstellen und unser Büro in Stanyzja Luhanska schließen müssen.
Lässt Ihre Organisation die Kinder jetzt im Stich?
Nein! Wir versuchen, so viele Mädchen und Jungs wie möglich mit ihren Familien und Pflegefamilien zu evakuieren und in bislang noch sichere Gebiete im Westen der Ukraine zu bringen.
Wie läuft die Evakuierungsaktion?
Wir haben für die Kinder und ihre Pflegeeltern Zugtickets gekauft. Die Familien haben in großer Eile das Nötigste – also vor allem Klamotten, Pässe und Handys – zusammengepackt und haben mit der Unterstützung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die rund 20-stündige Reise in den derzeit sicheren Westen der Ukraine angetreten.
Wollen denn alle Menschen ihre Wohnungen und Häuser verlassen?
Nein. Viele Menschen haben sich in den letzten Jahren an den Krieg gewöhnt und sind völlig abgestumpft. Viele Kinder kennen nur Krieg. Die Menschen an der Kontaktlinie glauben oder hoffen, dass es auch dieses Mal nicht so schlimm kommen wird.
Hilft SOS-Kinderdörfer auch den Menschen, die bleiben wollen?
Wir versuchen, sie zu überzeugen, mit unserer Hilfe zumindest zeitweise in sichere Gebiete umzusiedeln. Sollten sie dennoch bleiben wollen, versuchen wir sie dabei zu unterstützen, Lebensmittel- und Wasservorräte anzulegen und sich damit vertraut zu machen, wo der nächste Luftschutzkeller ist. Und wir klären Kinder über die Gefahr von Minen auf. Die Ostukraine gehört mittlerweile zu den am stärksten verminten Gebieten der Welt.
Was passiert mit den SOS-Kindern, die in den Westen der Ukraine fliehen?
Zunächst bringen wir sie mit ihren Familien in derzeit nicht ausgelasteten Rehakliniken unter. Sollte die Krise weiter eskalieren und Hunderttausende aus dem Osten fliehen, werden die Menschen auch in Sammelunterkünften wie Schullandheimen oder Hotels untergebracht werden müssen. Aber das kann nur eine temporäre Lösung sein. Wir müssen eine Gettoisierung der Geflüchteten unbedingt verhindern.
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