»Die Lage ist katastrophal und wird von Stunde zu Stunde schlechter«

Die Hilfsorganisation SOS-Kinderdörfer hat damit begonnen, Kinder im Donbass von beiden Seiten der Kontaktlinie zu evakuieren

  • Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 4 Min.
Herr Lukashov, SOS-Kinderdörfer arbeitet in der Ostukraine auf beiden Seiten der Front. Auch in Luhansk. Wie ist die Situation vor Ort?
Serhii Lukashov (vorne links) am Morgen des 18. Februars auf dem Bahnhof von Lyssytschansk (Oblast Luhansk) zusammen mit Kindern, ihren Pflegeeltern und Sozialpädagogin Natalya Gerasimenko (zweite von links vorne). Die Kinder haben die Reise in den sichereren Westen der Ukraine angetreten.
Serhii Lukashov (vorne links) am Morgen des 18. Februars auf dem Bahnhof von Lyssytschansk (Oblast Luhansk) zusammen mit Kindern, ihren Pflegeeltern und Sozialpädagogin Natalya Gerasimenko (zweite von links vorne). Die Kinder haben die Reise in den sichereren Westen der Ukraine angetreten.
Interview
Serhii Lukashov, 49, ist Landesdirektor von SOS-Kinderdorf in der Ukraine. Mit seinem Team organisiert der Sozialarbeiter derzeit die Evakuierung von Kindern und ihren Familien und Pflegefamilien aus den umkämpften Gebieten in der Ostukraine in sichere Gebiete in der Region Lwiw im Westen des Landes. Das Interview führte Philipp Hedemann am Abend des 22. Februar per Skype. Lukashov befand sich zu diesem Zeitpunkt in Saporischschja.

Die Lage ist katastrophal und wird von Stunde zu Stunde schlechter. Wir helfen Kindern auf beiden Seiten der Front, der sogenannten Kontaktlinie. Seit ein paar Tagen hat der Beschuss dort stark zugenommen. Die Kontaktlinie brennt! Die von der Regierung kontrollierten Gebiete liegen unter schwerem Artilleriebeschuss. Der von prorussischen Kräften mit Artillerie beschossene Kindergarten in Stanyzja Luhanska liegt nur ein paar Hundert Meter von unserem Büro entfernt.

Konnten Sie bislang auf beiden Seiten der Front ungehindert arbeiten?

In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten hatten wir bislang kaum Probleme. Auf der anderen Seite der Kontaktlinie sind wir teilweise auf großes Misstrauen gestoßen. Uns wurde manchmal unterstellt, wir seien Agenten der Ukraine oder des Westens. Aber das ist absoluter Quatsch. Wir arbeiten streng nach den humanitären Prinzipien Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität. Wir stehen auf keiner Seite.

Kann SOS-Kinderdörfer trotz des Krieges weiterhin in den umkämpften Gebieten arbeiten?

Wir unterstützen derzeit 500 bis 600 Kinder in von der Regierung kontrollierten Gebieten und 300 bis 400 Kinder in Gebieten, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. Seit Beginn des Konfliktes haben wir bislang fast 80 000 Kinder, die in ihren Familien oder bei Pflegefamilien leben, unter anderem mit psychosozialer, materieller und pädagogischer Hilfe unterstützt. Unsere Mitarbeiter haben dazu am Checkpoint oft die Kontaktlinie überquert. Aber mittlerweile liegt auch dieser Checkpoint unter Beschuss. Wir hatten großes Glück, dass bislang niemand von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der Arbeit verletzt oder getötet wurde. Um ihr Leben so gut wie möglich zu schützen, haben wir die Besuche bei den Pflegefamilien mittlerweile schweren Herzens einstellen und unser Büro in Stanyzja Luhanska schließen müssen.

Lässt Ihre Organisation die Kinder jetzt im Stich?

Nein! Wir versuchen, so viele Mädchen und Jungs wie möglich mit ihren Familien und Pflegefamilien zu evakuieren und in bislang noch sichere Gebiete im Westen der Ukraine zu bringen.

Wie läuft die Evakuierungsaktion?

Wir haben für die Kinder und ihre Pflegeeltern Zugtickets gekauft. Die Familien haben in großer Eile das Nötigste – also vor allem Klamotten, Pässe und Handys – zusammengepackt und haben mit der Unterstützung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die rund 20-stündige Reise in den derzeit sicheren Westen der Ukraine angetreten.

Wollen denn alle Menschen ihre Wohnungen und Häuser verlassen?

Nein. Viele Menschen haben sich in den letzten Jahren an den Krieg gewöhnt und sind völlig abgestumpft. Viele Kinder kennen nur Krieg. Die Menschen an der Kontaktlinie glauben oder hoffen, dass es auch dieses Mal nicht so schlimm kommen wird.

Hilft SOS-Kinderdörfer auch den Menschen, die bleiben wollen?

Wir versuchen, sie zu überzeugen, mit unserer Hilfe zumindest zeitweise in sichere Gebiete umzusiedeln. Sollten sie dennoch bleiben wollen, versuchen wir sie dabei zu unterstützen, Lebensmittel- und Wasservorräte anzulegen und sich damit vertraut zu machen, wo der nächste Luftschutzkeller ist. Und wir klären Kinder über die Gefahr von Minen auf. Die Ostukraine gehört mittlerweile zu den am stärksten verminten Gebieten der Welt.

Was passiert mit den SOS-Kindern, die in den Westen der Ukraine fliehen?

Zunächst bringen wir sie mit ihren Familien in derzeit nicht ausgelasteten Rehakliniken unter. Sollte die Krise weiter eskalieren und Hunderttausende aus dem Osten fliehen, werden die Menschen auch in Sammelunterkünften wie Schullandheimen oder Hotels untergebracht werden müssen. Aber das kann nur eine temporäre Lösung sein. Wir müssen eine Gettoisierung der Geflüchteten unbedingt verhindern.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -