- Politik
- Mindestlohn
Weniger als ein Inflationsausgleich
Bundeskabinett beschließt Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro ab Oktober
Gewerkschafter loben sie - Unternehmervertreter fühlen sich bei der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Oktober übergangen. Nach dem Willen der Ampel-Koalition soll die Entgeltuntergrenze auf 12 Euro pro Stunde ansteigen. Am Mittwoch beschloss das Bundeskabinett einen entsprechenden Gesetzentwurf. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte, »über sechs Millionen hart arbeitende Menschen, vor allem in Ostdeutschland und vor allem Frauen« würden davon profitieren. Allerdings haben Ökonomen und Gewerkschafter darauf hingewiesen, dass die Anhebung angesichts der drastisch gestiegenen Preise insbesondere für Strom, Heizung und Kraftstoffe für diejenigen, die davon »profitieren«, nicht einmal als Inflationsausgleich ausreicht.
Den Mindestlohn gibt es seit Januar 2015. Damals lag er bei lediglich 8,50 Euro pro Stunde. Insbesondere Vertreter der Linkspartei, aber auch der damals oppositionellen Grünen monierten bei Einführung die zahlreichen Ausnahmen und später, dass kaum Kontrollen stattfinden, mit denen geprüft werden müsste, ob der Mindestlohn tatsächlich korrekt gezahlt wird. Seither stieg die Lohnuntergrenze in mehreren Stufen auf derzeit 9,82 Euro an, im Juli wird sie planmäßig auf 10,45 Euro erhöht.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erklärte am Mittwoch, die jetzt festgeklopfte Erhöhung sei »ein wichtiger Schritt, um Armut zu vermeiden«. Der Bundestag müsse das Gesetz nun rasch beschließen. Die Erhöhung komme auch der Konjunktur zugute, weil dadurch die Kaufkraft steige. Als »Fehler« bezeichnete der DGB die im Rahmen des Gesetzes geplante Erhöhung der Verdienstobergrenze für Minijobs von 450 auf 520 Euro. Sie soll künftig generell an die Höhe des Mindestlohns gekoppelt werden. Durch die Anhebung des Betrages blieben weiterhin Millionen Beschäftigte vom Schutz der gesetzlichen Sozialversicherung ausgeschlossen. Die Linke-Sozialpolitikerin Susanne Ferschl kritisierte: »Statt endlich den Niedriglohnsektor auszutrocknen, macht die Ampel den Arbeitgebern eine weitere Offerte und schreibt Minijobs als Zukunftsmodell fest.« Für die Unternehmer sei das ein »lukratives Geschäft, für die Beschäftigten eine Armutsfalle«, erklärte Ferschl am Mittwoch.
Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), kritisierte das mit dem Gesetz der Ampel verbundene Übergehen der Mindestlohnkommission. Die dort jahrelang praktizierte »vertrauensvolle Zusammenarbeit« werde dadurch »schwer gestört«, sagte Dulger am Mittwoch. Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft monierte, mit dem Gesetz werde die Tarifautonomie geschwächt.
Susanne Ferschl, Vizechefin der Linksfraktion im Bundestag, rügt, das neue Gesetz sei ein »Freifahrtschein für Mindestlohnbetrug«. Denn bei der gleichzeitig geplanten Ausweitung der Minijobs habe die FDP die zunächst angekündigte Neuregelung der Arbeitszeiterfassung »kassiert«. Ferschl weiter: »Schon heute werden mehr als zwei Millionen Beschäftigte systematisch um ihren Mindestlohn betrogen. Einfallstor für Manipulationen ist die nicht dokumentierte Arbeitszeiterfassung durch die Arbeitgeber. Das ist kein Kavaliersdelikt, sondern grenzt an Wirtschaftskriminalität.« Ferschl wies darauf hin, dass die Unternehmerverbände vor Verabschiedung des Gesetzes gegen striktere Vorgaben zur Arbeitszeiterfassung »Sturm gelaufen« seien.
Die Linke-Politikerin kritisiert zudem, dass zahlreiche Ausnahmen fortbestehen. Zudem solle die Mindestlohnkommission auch künftig nur alle zwei Jahre über Anpassungen befinden. Ferschl fordert, den Mindestlohn »jährlich anzupassen und 60 Prozent des Bruttomedianlohns als Untergrenze dieser Anpassung gesetzlich vorzuschreiben«.
Mehr Kontrollen, eine bessere Arbeitszeiterfassung und Sanktionen für Unternehmen, die den Mindestlohn unterlaufen, forderte auch Johannes Seebauer, Experte für Arbeit am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Letztere könnten darin bestehen, dass sich Unternehmen, denen Verstöße nachgewiesen wurden, nicht auf öffentliche Aufträge bewerben dürfen. Auch Seebauer sprach sich dafür aus, »Minijobs einzudämmen«. Sie verdrängten sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, seien »Teilzeitfalle und anfällig für Missbrauch«.
Unterdessen wies der Bundesverband der Rentenberater darauf hin, dass sich die Rente für Vollzeitbeschäftigte mit 45 Beitragsjahren durch die Anhebung des Mindestlohns um rund 15 Prozent nur um etwa 3,5 Prozent erhöhe. Grund sei die Berechnungsweise der zum Januar 2021 eingeführten Grundrente. Besser sehe es für Teilzeitbeschäftigte aus, bei denen der Rentenanstieg prozentual sogar höher ausfallen könne als die Mindestlohnanhebung.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.