Ukrainischer Präsident gibt sich siegessicher

Selenskyj wendet sich an die Menschen in Russland und ruft die Ukrainer auf, zu Hause zu bleiben

  • Daniel Säwert, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.

Es war ein letzter Versuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, den drohenden Einmarsch russischer Truppen in sein Land doch noch irgendwie zu verhindern. Gegen zwei Uhr Moskauer Zeit wandte er sich an die Menschen in Russland, auf Russisch. Dabei wusste er, dass dortige Fernsehsender seine Rede nicht ausstrahlen würden. Er spreche nicht als Präsident, sondern als Bürger der Ukraine, der mit den Menschen im Nachbarland in Kontakt treten will. Man wolle keinen Krieg, darunter litten vor allem die Menschen, so Selenskyj. Und er teile die Hoffnung, dass es in Russland Menschen gebe, die einen Krieg verhindern wollen.

Doch Selenskyjs Appell, der später auch in russischen Medien veröffentlicht wurde, führte zu nichts. Um 3.40 Uhr Ortszeit griff die russische Armee die Ukraine großflächig an. Überall im Land wurden die Menschen von Luftschutzsirenen und Raketenexplosionen aus dem Schlaf gerissen. Aus dem Ausnahmezustand, der vorher galt, wurde ein Kriegszustand. Selenskyj rief seine Landsleute dazu auf, am besten zu Hause bleiben. »Keine Panik, wir sind stark, wir sind zu allem bereit, wir werden jeden besiegen«, so der Präsident selbstbewusst. Und sperrte kurz darauf den Luftraum der Ukraine für die zivile Luftfahrt.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Viele mögen dem Aufruf Selenskyjs gefolgt und zu Hause geblieben sein. Doch wer kann, verlässt die großen Städte. Tankstellen und viele Supermärkte sind ausverkauft. Eier, Wasser, Konserven, Nudeln und Bargeld, viele Menschen decken sich für eine ungewisse Zeit ein. Vor allem in Kiew kam es tagsüber auf den Ausfallstraßen zu kilometerlangen Staus. In der Hafenstadt Odessa versuchten viele Menschen, per Zug herauszukommen. In Kiew und der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw suchten viele Menschen Zuflucht in der Metro, die zu Sowjetzeiten auch als Luftschutzkeller gebaut wurde. In Charkiw wurde am Nachmittag der Verkehr im Untergrund ganz eingestellt, um mehr Menschen aufnehmen zu können.

Am Mittag beendete Selenskyj die diplomatischen Beziehungen zu Moskau, wo die Botschaft geräumt wurde. Die Konsulate arbeiten weiter. Der Schritt hatte sich bereits nach Wladimir Putins Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken am Montag abgezeichnet. In Kiew brachte Selenskyj unterdessen ein Gesetzesvorhaben zur allgemeinen Mobilmachung ein. Jeder, der bereit sei, eine Waffe in der Hand zu halten, solle in die Armee eintreten, so Verteidigungsminister Olexij Resnikow in einer Videoansprache. Später erklärte die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, sie werde nun ohne Unterbrechung tagen.

Trotz vieler Videos von Luftangriffen und rollenden Panzern ist die Lage unübersichtlich. Nachrichten über die Absperrung Kiews nannte Bürgermeister Witalij Klitschko Fake. Ebenso, dass wehrfähige Männer aufgehalten und in die Armee eingezogen würden. Auch das ukrainische Verteidigungsministerium versuchte, Fake-Nachrichten über aufgegebene Städte entgegenzuwirken. Gleichzeitig veröffentlichte das Ministerium Erfolgsmeldungen, die stark an Durchhalteparolen erinnern und sich kaum verifizieren lassen.

Auch am späten Nachmittag heulten in vielen Großstädten immer wieder Luftschutzsirenen auf. Präsident Selenskyj rief die Russen dazu auf, gegen den Krieg ihres Präsidenten auf die Straße zu gehen. Auch viele bekannte Ukrainer wendeten sich, teils verzweifelt, teils kämpferisch an die Menschen im Nachbarland. In einer Videobotschaft warnte der Journalist Dmytro Hordon vor einem verlustreichen Einmarsch und rief seine Kollegen Ksenija Sobtschak und Jurij Dud auf, sich für ein Ende des Einmarschs einzusetzen.

Auf Instagram rief der Regisseur Alan Badojew die Russen dazu auf, sich gegen den Krieg zu erheben. »Vergesst alles, was wir gestern über die Welt wussten. Erinnert euch an den Tag, um davon euren Kindern zu erzählen«, so Badojew an die Menschen in Russland. Der Sänger Max Barskih schrieb, dass Schweigen und Gefügigkeit in die Sklaverei führen. »Hört auf zu schweigen! Sonst werden Gier, Habsucht, der Wunsch einer kleinen Machtelite Millionen Menschenleben fordern, wenn nicht in Zukunft die gesamte Menschheit.« Moderatorin Lessja Nikitjuk rief ihre russischen Follower dazu auf, allen zu erzählen, dass ihr Land die Ukraine bombardiert.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!