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Der Krieg in den Herzen
In »Belfast« sucht der Regisseur Kenneth Branagh in all den politisch motivierten Kämpfen in Nordirland die Geschichte seiner Kindheit
Eine Straße in Belfast. Kleine Häuser, davor spielen Kinder. Jeder kennt jeden. Es ist hier so heimelig wie in einer Kleinstadt, die nicht arm und nicht reich ist. Alle sind nett zueinander, schließlich gingen schon die Großeltern gemeinsam zur Schule. Etwas eng vielleicht für mehrere Generationen unter einem Dach und gleich daneben schon die nächste Großfamilie.
Was wie eine Idylle wirkt, gemacht aus Frömmigkeit, Redlichkeit und Reinlichkeit, hat seine Abgründe. Und an diesem Tag im Jahre 1969 geschieht es: Die Gewalt bricht aus. »Katholiken raus!«, klingt es durch die eben noch friedliche Gasse. Brandbomben fliegen, Scheiben gehen zu Bruch. Menschen werden von einem hasserfüllten Mob gejagt. Verschwindet hier, sonst schlagen wir euch tot! Nachbarn hassen plötzlich ihre Nachbarn. Wir oder die, heißt es nun, entweder-oder, das ist die Logik des Krieges, hier des Bürgerkrieges.
Den neunjährigen Buddy (Kinderdarsteller Jude Hill ist zum Glück mehr Kind als Darsteller) trifft der Schock unerwartet. Seine heile Welt hat tiefe Risse bekommen. Er sieht die Dinge um sich herum nun mit anderen Augen: als ein Paradies, das vor seinen Augen zerstört wird. Und diesem Blick folgt Regisseur Kenneth Branagh, der auch das Drehbuch schrieb.
Es ist seine eigene Geschichte, für die er den Namen »autofiktiv« fand. 1960 in Belfast als Sohn protestantischer Eltern geboren, ging die Familie 1969 nach England, wo Branagh mit 19 seine Schauspielausbildung an der Royal Academy of Dramatic Art begann. Mit Shakespeare-Verfilmungen wurde er früh berühmt, die Universität in Belfast verlieh ihm bereits mit 30 Jahren einen Ehrendoktor. So sehr erkennt man in ihm einen Botschafter Nordirlands!
Aber welche Botschaft ist das? Um diese Frage zu beantworten, taucht Branagh in Kindheitswelten ein. Das Pogrom in seiner Straße richtete sich gegen die Katholiken, seine Familie aber ist protestantisch. Der Vater arbeitet den halben Monat in England, wo er besser verdient. Sein Blick ist freier als der anderer in seiner Straße. Er versteht diesen Ausbruch der Gewalt nicht, der sich gegen katholische Nachbarn richtet, mehr noch, er schämt sich stellvertretend für die militanten Protestanten. Jetzt bedroht man auch ihn: Wenn er sich nicht zu ihrem Kampf bekenne, dann gehöre er zu den Katholiken und was denen blühe, wisse er, bedrängt ihn der selbst ernannte Führer der Protestanten. »Du bist kein Protestant, Du bist, was Du immer schon warst, ein Gangster!«, gibt ihm der Vater zur Antwort und fortan lebt die Familie, die jeder in der Straße kennt, gefährlich.
Wie in Lars von Triers »Dogville« ist dies eine Versuchsanordnung zu Erzeugung von Gewalt auf engstem Raum - nur dass hier der Buddy im Schutzraum der skurrilen Geschichten der Großeltern (Ciarán Hinds und Judi Dench) aufwächst. Diese glauben nicht an erhabene patriotische oder religiöse Gefühle. Der Mensch sei aus zu krummem Holz gemacht, als dass aus ihm ein gerades Stück werden könne, so einst Immanuel Kant. Und Buddy? »Ich habe von Gott, ehrlich gesagt, für heute genug.«
So lautet sein Fazit nach dem Gewaltausbruch auf der Straße. Natürlich geht es, wenn es um den einzig wahren Glauben geht, nie nur um den einzig wahren Glauben! Die irischen Katholiken fühlen sich Irland nahe und England fern. Die IRA bombte dann auch rücksichtslos für Nordirlands Unabhängigkeit. Und die irischen Protestanten wissen sich England zugehörig. Das ist der eigentliche Zwist - der Virus des Separatismus heizt den Konflikt an.
Und Branagh sucht in all den politisch motivierten Kämpfen die Geschichten seiner Kindheit. Was er findet, ist von einer skurrilen Poesie, die diesem Film eine ganz eigene Intensität gibt, ebenso verspielt wie klar blickend. Der Humor der Großeltern hilft ihm durch manch bittere Erfahrung: »Iren sind zu Auswanderern geboren, sonst gäbe es auf der Welt keine Pubs!« Ebenso hat ihn auch der moralische Rigorismus der Mutter (Caitriona Balfe) beeindruckt, wovon eine Szene zeugt, in der Buddy, vom protestantischen Mob mitgerissen, der einen katholischen Laden plündert, eine Packung Waschpulver nach Hause bringt und die Mutter ihn daraufhin samt Waschpulver buchstäblich zurück in den Laden schleift. Was er sich dabei gedacht habe? In seiner immer wieder verbale Auswege findenden Hilflosigkeit stammelt der Junge: »Aber das ist biologisches Waschpulver!« Inzwischen patrouilliert Armee auf der Straße, über den Köpfen kreisen Hubschrauber und eine große Barrikade trennt den katholischen vom protestantischen Teil.
Der kindliche Blick macht diesen Film zu etwas Besonderem. Eine erste Liebe Buddys zu seiner Banknachbarin bleibt fast stumm, die ganze Familie leidet mit ihm, hat mehr oder weniger gute Ratschläge parat. Immerhin spornt es seinen Lerneifer an, denn die Angeschwärmte sitzt in der Schulklasse in der ersten Reihe, in der die Lehrerin nur die besten Schüler platziert. Bald sitzt er auch da - wozu die Liebe einen bringt!
Der Vater (Jamie Dornan), Pendler zwischen Belfast und seinem Arbeitsort in England, ist frei von aller Prinzipienreiterei, ein Pragmatiker, der seinem Sohn regelmäßig mit auf den Weg gibt: »Sei brav! Und wenn das nicht möglich ist, sei auf der Hut!« Dieser mal naive, mal altkluge Blick auf Belfast Ende der 60er Jahre mit seiner explosiven Gemengelage, kurz bevor die Familie nach England zieht (fast möchte man sagen: flieht), macht Branaghs Film zu einem kostbaren Kleinod, das man ihm kaum mehr zugetraut hätte.
Denn, so ging es mir zumindest, Branagh als Regisseur hatte ich bereits abgeschrieben. Verloren an die Jagd nach Quoten und das große Geld. Nicht nur seiner frühen, ebenso seichten wie langweiligen Shakespeare-Verfilmungen wegen, sondern mehr noch wegen seiner beiden jüngsten Verfilmungen von Agatha Christie. 2017 drehte er »Mord im Orient-Express« und soeben kam »Tod auf dem Nil« von 2021 ins Kino. Zwei hochglanzpolierte völlig überflüssige Remakes ansehnlicher Vorgänger, mit Branagh selbst in der Hauptrolle als Hercule Poirot. Immens teure Filme. Sie spielten jedoch sehr viel mehr Geld ein, als sie kosteten - damit ist dann die Welt von Kaufen und Verkaufen wieder in Ordnung. Die Kamera bei diesen elenden Kunstgewerbe-Unternehmungen führte beide Male Haris Zambarloukos. Dessen beliebteste Einstellung ist die Vogelperspektive; da wirkt alles Irdische so pittoresk.
Und nun beginnt »Belfast« wiederum mit einer Vogelperspektive, ein Blick vom Himmel auf die Hafenstadt. Als Zuschauer meint man sich wie über einen allzu üppigen Bildband gebeugt - und wappnet sich. An der Kamera wiederum Haris Zambarloukos.
Aber dann senkt sich die Kamera, steigt vom Himmel herab, alle Farbe schwindet und die Zeitreise in Schwarz-Weiß beginnt in präzisester Nuancierung. Dazu die Musik von Van Morrison, auch er ein Nordire, den man in der Welt kennt. Wie kann man sich nur so täuschen und jemanden derart voreilig abschreiben!
Denn dies ist einer der zartesten und originellsten Filme seit Langem, eine Herzenssache des Regisseurs und Drehbuchschreibers Branagh. Die meisterliche Hommage an das wahre Belfast seiner Eltern und Großeltern. Der Sohn und Enkel über seine frühen Kindheitstage: »Wir hörten ausgiebig Radio, hörten ausgiebig Schallplatten und schauten uns ausgiebig Filme an und wenn wir das nicht taten, besuchten wir uns gegenseitig.«
Man sieht es und glaubt Branagh: Das ist seine Geschichte - und was für eine!
»Belfast«: UK 2021. Regie und Buch: Kenneth Branagh. Mit: Jude Hill, Caitriona Balfe, Jamie Dornan, Judi Dench, Ciarán Hinds. 99 Min. Jetzt im Kino.
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