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Krokodilsprobleme
Spaß und Verantwortung: Olga Hohmann schreckt lieber ab statt abzuschleppen
Mein Psychoanalytiker liebt, wie die meisten Psychoanalytiker*innen, Witze. Wir haben jeweils einen Lieblingswitz, den wir nicht müde werden, einander zu erzählen. Ich erzähle immer wieder den Witz über den Mann, der Angst davor hat, dass das »Krokodil unter seinem Bett« ihn fressen könnte, wie er in der Analyse erzählt. Nach etwa zehn Sitzungen ist seine Angst verschwunden - und der Mann auch. Als der Psychoanalytiker am nächsten Tag in die Zeitung schaut, stößt er im Lokalteil der örtlichen Tageszeitung auf eine Meldung vom Vortag: »Mann vom Krokodil gefressen«. Wann immer mein Analytiker die Augen rollt über meine »Probleme« (erstaunlich häufig), erzähle ich ihm diesen Witz - um ihn daran zu erinnern, dass meine »Probleme« (meistens auf dem Niveau von »keiner mag mich«) durchaus einen realen Anteil haben.
Herr P. hingegen hat einen anderen Witz, den er mir immer wieder erzählt, um mir meinen eigenen (traurigen) Spiegel vorzuhalten: Ein Mann geht zum Psychiater, er ist schon länger in Behandlung. Weil nichts zu helfen scheint, nicht einmal starke Antidepressiva (und ein Gespräch erst recht nicht), schlägt der Psychiater ihm vor, zur Aufheiterung doch einmal in den städtischen Zirkus zu gehen: Dort gäbe es einen hervorragenden Clown. »Der Clown, das bin ich«, antwortet der Analysand daraufhin. Der Kommentar von Herrn P. ist jedes Mal on point. Er sitzt. So sehr, dass ich schon das eine oder andere Mal wütend seine Praxis verlassen habe, weil ich es als riesige Frechheit empfand, mit dem traurigen Clown verglichen zu werden. Es ist kein Geheimnis, dass einen die Kritik, die wahr ist, am stärksten angreift.
Manchmal frage ich mich, ob diese Kolumne mich verhext hat. Schon seit einem guten Jahrzehnt weiß ich, dass es wenig gibt, womit man sich so gut schützen kann, wie wenn man die eigenen alltäglichen und außeralltäglichen Missgeschicke und Rückschläge in lustige Geschichten übersetzt. Lakonischer Humor ist eine Distanzierungsstrategie, sie trennt einen von dem Erlebten und macht einen zur tragikomischen Protagonistin des eigenen Lebens, zu einer Art unbeteiligter Heldin. Seit einiger Zeit, vielleicht insbesondere seit ich diese Kolumne schreibe, hat diese Lust am eigenen Scheitern aber richtiggehend überhand genommen. Unbeteiligt - das heißt nämlich auch: unberührbar. Man hält sich sein Gegenüber (buchstäblich) »vom Leib«, indem man sprachlich demonstriert, dass man nichts oder niemanden zu brauchen scheint. Eine hervorragende Strategie des »Friend Zoning«, die ich zum Beispiel immer am liebsten dann anwende, wenn ich jemanden in Wirklichkeit mag oder zumindest potenziell mögen könnte. Lieber gleich die Situation entzaubern als Bedürftigkeit zeigen, lieber abschrecken als abschleppen - und bloß nicht zugeben, dass man etwas (von jemandem) wollen könnte.
Die Strategie, Menschen, die ich potenziell mögen könnte, schon loszuwerden, bevor sie merken, dass ich sie mag, ist mittlerweile so professionalisiert, dass sie mir selbst als Strategie gar nicht mehr auffällt. Stattdessen fließt das dann (von Krokodilstränen begleitet) als Krokodilsproblem in meine Psychoanalysesitzungen (»keiner mag mich«). Oder eben als lustige Geschichte in meine Kolumne.
Um Verständnis auszudrücken, sagte man in linken Kreisen in den USA der 1980er Jahre »I see you«. In den 1990ern wurde »I hear you« daraus - und seit ungefähr zehn bis 15 Jahren ist die zustimmende Floskel »I feel you« daraus geworden. Man könnte eine ganze Theorie zur Frage nach Empathie in der Gegenwart an dieser Transformation aufziehen. Ich frage mich aber vor allem, warum ich, noch keine 30 Jahre alt, den Sprung zu »I feel you« ganz offensichtlich noch immer nicht geschafft habe.
Vergangene Woche ist mir etwas absolut Kolumnenwürdiges passiert. Aber ich werde es erst mal nicht aufschreiben - ein bisschen Heiligkeit muss sein. Vielleicht später, wenn es vorbei ist, um die Krokodilstränen zu trocknen.
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