Jeder soll gewinnen

Der Staatsführer aus der TV-Serie: Wolodymyr Selenskyj wächst über sich selbst hinaus

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Krieg der Bilder. Wir verfolgen sie live am Bildschirm wie eine Serie mit zwei Antipoden: Der Bösewicht und der Underdog, der unfreiwillig zum Helden wurde. Der Unterschied in der Inszenierung könnte größer kaum sein: Wladimir Putin erscheint unberechenbar und kalt, verschanzt sich hinter seinen absurd großen Tischen mit Goldornamenten und hält selbst seine engsten Mitarbeiter paranoid auf Abstand.

Wolodymyr Selenskyj dagegen, der ukrainische Präsident, filmt sich mit der Handykamera auf der Straße, spricht täglich in mehreren Videos den ukrainischen Bürger*innen Mut zu und strahlt dabei Ruhe, Entschlossenheit und Zuversicht aus. Mittlerweile sieht man ihm an, dass er lange nicht geschlafen hat, aber Selenskyj macht unermüdlich weiter mit seinen Appellen und emotionalen Reden. Ohne diese unermüdliche Medienarbeit hätte die Ukraine vielleicht weniger internationale Unterstützung in der aktuellen Krise erhalten.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Putin wirkt unnahbar und verkörpert mit seinen Auftritten genau den Autokraten, der er ist: Einer, der sich an die Macht klammert und vor dem man Angst haben soll. Und spätestens seit er die ukrainische Regierung als Bande »drogenabhängiger Neonazis« bezeichnet hat, dürften so einigen Zweifel an seiner geistigen Verfassung gekommen sein. Selenskyj dagegen verkörpert Authentizität und Nähe. In seinen Reden, die er in den sozialen Medien veröffentlicht, hat er sich mehrfach direkt an die Menschen in Russland und Belarus gewandt und man hört schon Scherze, er spreche öfter zum russischen Volk als Putin.

Und während Putin alle Antikriegsproteste im eigenen Land niederschlagen lässt, auch die letzten unabhängigen Medien in Russland verboten werden und es nun mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden kann, wer den Krieg in der Ukraine als solchen bezeichnet, und nicht als »Friedensmission«, betont Selenskyj immer wieder, die Wahrheit auf seiner Seite zu haben. Er zeigt sich als jemand, dem man gerne glauben möchte - eine willkommene Abwechslung zu Putin, dessen Lügen fast schon zum Image gehören. Er ist schließlich nicht darauf angewiesen, dass die Menschen ihm glauben, er muss nur dafür sorgen, dass ihm niemand widerspricht.

Zwar geht auch Selenskyj ab und an etwas freier mit der Wahrheit um - zum Beispiel mit der gezielt eingesetzten Falschmeldung, dass er sich bei Erdogan für die Sperrung des Bosporus für Kriegsschiffe bedankte -, aber das ist kein Vergleich zu Putins Propagandamaschine, die bereits an eine der Losungen aus George Orwells »1984« erinnert: »Krieg ist Frieden!«

Nach Selenskyjs Wahl zum Präsidenten vor knapp drei Jahren wurde er von vielen Seiten belächelt. Der damals 41-Jährige hatte keinerlei politische Erfahrung, sondern war als Comedian und Schauspieler bekannt. In der aktuellen Krise ist er über sich selbst hinausgewachsen und zeigt sich auf einer ganz anderen Ebene als Allroundtalent: Als Krisenmanager, Hoffnungsträger und Chefunterhändler, der bei den Staatschefs der ganzen Welt für seine Sache wirbt.

Dass er damit so großen politischen Erfolg hat, dürfte durchaus mit seinen Talenten als Entertainer zu tun haben: Selenskyj weiß, wie man kommuniziert und Menschen für sich einnimmt. Zum einen mit Humor, den er trotz der ernsten Lage lange nicht verloren hat. Noch auf der Münchner Sicherheitskonferenz wenige Tage vor dem Beginn der Invasion scherzte er über einen russischen Cyberangriff, als sein Headset nicht funktionierte.

Und zum anderen verkörpert er erfolgreich die Figur des normalen, sympathischen Bürgers - als sei er einer von uns. In einer seiner ersten Videobotschaften während des Krieges erzählte Selenskyj: »Als ich Präsident wurde, habe ich gesagt, dass jeder von uns Präsident ist. Denn wir alle sind für unseren Staat verantwortlich. Für unsere schöne Ukraine. Und ist es dazu gekommen, dass jeder von uns zum Krieger geworden ist … Und ich bin zuversichtlich, dass jeder von uns gewinnen wird.«

Dieses Narrativ impliziert, dass Selenskyj gerade tut, was er kann, aber jeder andere an seiner Stelle das auch geschafft hätte. Damit knüpft er auch an die viel zitierte Fernsehserie »Diener des Volkes« an, in der er einen Geschichtslehrer spielt, der überraschend zum Präsidenten gewählt wird, weil ein Video viral ging, in dem er auf die Korruption im Land schimpft.

Für den Präsidenten in der Serie ist es von großem Vorteil, keine Erfahrungen als Politiker zu haben. Er verfängt sich so gar nicht erst in den vorhandenen Strukturen, sondern macht sich pragmatisch an die Aufgabe, die vor ihm liegt. Und wer es geschafft hat, eine zehnte Klasse für Geschichte zu begeistern, der schafft es wohl auch, korrupte Oligarchen in die Schranken zu weisen. Auch wenn berichtet wird, dass Selenskyj einem der reichsten Männer der Ukraine nahestehen soll: Ihor Kolomojskyj, der früher Julija Tymoschenko, die ehemalige Ministerpräsidentin, unterstützt hat.

Die Serie »Diener des Volkes« lief von 2015 bis 2019 und kam beim Publikum sehr gut an. Als Selenskyj beschloss, auch im wirklichen Leben als Präsident zu kandidieren, nannte er seine Partei nach dem Titel der Serie »Diener des Volkes«. Das war auch ein Versprechen, ebenfalls die festgefahrenen Strukturen der Politik aufzubrechen. Und zwar als »einfacher Mann« statt als starker Anführer.

Selenskyj hat ein Image für sich geschaffen, das fern von Personenkult und heldenhafter Überhöhung ist, was ihn nur noch sympathischer wirken lässt. Dass er, der 2006 die Castingshow »Dancing with the Stars« gewonnen hat und von dem lustige Videos existieren, in denen er so tut, als würde er mit seinem Penis Klavier spielen, zu dem Staatsmann werden konnte, der er heute ist, bietet Raum für moderne Heldenerzählungen. Es machen bereits überhöhende Darstellungen Selenskyjs als Meme und Graffiti die Runde mit seinem Spruch »Ich brauche Munition und keine Mitfahrgelegenheit«, den er äußerte, als Joe Biden ihm sicheres Geleit in die USA anbot, und der »Spiegel« titelt: »Wolodymyr Selenskyj: Verteidiger der freien Welt«.

Es scheint, als hätte die Welt in diesem Krieg ihren Helden gefunden - und sie klammert sich an die Hoffnung, dass am Ende die Wirklichkeit so sein wird wie eine Serie, in der, nach vielen Wendungen und Cliffhangern, schließlich das Gute gewinnt. Auch wenn die Chancen gegen die Übermacht des Bösewichts wirklich nicht gut standen.

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