Drohungen vom Fließband

Wissler betont Vertrauensverlust in Polizei nach NSU 2.0-Briefserie

  • Joachim F. Tornau, Frankfurt am Main
  • Lesedauer: 3 Min.

Wie man sich den Prozess um die Drohschreibenserie des »NSU 2.0« nach fünf Verhandlungstagen vorstellen muss, bringt eine beiläufige Bemerkung der Vorsitzenden Richterin gut auf den Punkt. »Ich muss es immer nur abhaken«, sagt Corinna Distler am Donnerstag im Frankfurter Landgericht. Vor ihr sitzt Janine Wissler, Vorsitzende der Linkspartei, und tut das, was vor ihr schon ihre Parteikollegin Martina Renner, die Anwältin Seda Başay-Yıldız, die stellvertretende taz-Chefredakteurin Katrin Gottschalk und der Leiter der Walter-Lübcke-Schule im nordhessischen Wolfhagen tun mussten: Auf einer großen Leinwand bekommt sie die Mails gezeigt, die ihr der Angeklagte Alexander M. geschickt haben soll, und sie muss sagen, ob sie sie kennt.

Mehr als hundert Schreiben mit dem Kürzel »NSU 2.0« soll der 54-Jährige aus Berlin insgesamt verschickt haben, ein Mann ohne Job, der seine Tage und Nächte vor allem vor dem Computer verbracht haben muss. Etwa 15 dieser Drohmails gingen bei Wissler ein. Ein im NS-Duktus verfasstes »Todesurteil« war darunter, vor Sexismus und Rassismus nur so triefende Beleidigungen und Bedrohungen sowieso. Und: Immer wieder standen ihre Handynummer und ihre Frankfurter Privatadresse darin, beides von der Politikerin eigentlich sorgsam geheim gehalten.

»Natürlich hat mich das beunruhigt«, sagt sie. Zumal bei einer Mail mit ihrer privaten Anschrift auch ein NPD-naher Anwalt im Verteiler stand. Schmähungen und Bedrohungen von Rechtsaußen, das kannte sie schon. Und das erlebt sie bis heute, »anhaltend«, sagt Wissler. Aber mit privaten Daten? Das war neu.

Das Gericht möchte von ihr - wie von allen Zeuginnen und Zeugen bislang - neben der Eingangsbestätigung eigentlich nur noch eines wissen: Welche Folgen die Hassnachrichten hatten. Das zielt auf Sicherheitsvorkehrungen, auf die eventuelle Einschränkung öffentlicher Auftritte, auf psychische Belastungen. Wissler aber rückt anderes in den Vordergrund. Vom »Vertrauensverlust« in die Polizei spricht sie. Erst spät habe sie erfahren, dass ihre Daten von einem Polizeicomputer abgerufen worden waren: fünf Tage bevor sie am 15. Februar 2020 die erste Mail des »NSU 2.0« bekam, auf einer Polizeiwache in Wiesbaden. Immer wieder habe sie das Landeskriminalamt (LKA) gefragt, ob wie bei den Drohungen gegen Seda Başay-Yıldız auch bei ihr Spuren zur hessischen Polizei führen, immer wieder sei die Antwort nein gewesen. »Ich war irritiert, dass man mir nicht nur nichts gesagt hat, sondern sogar etwas Falsches«, sagt die Linke-Vorsitzende.

Und noch mehr Merkwürdigkeiten weiß sie zu berichten: dass es ausgerechnet der Landespolizeipräsident gewesen sei, der die Bedrohungen, über die sie, auch um die Ermittlungen nicht zu behindern, bewusst geschwiegen hatte, gegenüber Journalisten ausplauderte. Dass offenbar weder das LKA noch die Staatsanwaltschaft einen Strafantrag von ihr für nötig hielten - mit der Folge, dass einzelne der Drohschreiben jetzt nicht Teil der Anklage sind.

Die linke Bundestagsabgeordnete Martina Renner, die nach eigener Zählung elfmal Post vom »NSU 2.0« bekam und am vorangegangenen Prozesstag als Zeugin gehört wurde, leitete die Drohmails sicherheitshalber nur mit geschwärzten persönlichen Daten an die Polizei weiter. Wie Başay-Yıldız ist die Rechtsextremismusexpertin als Nebenklägerin zum Verfahren zugelassen - zum nun auch offen erklärten Unwillen des Angeklagten. Am Donnerstag beantragt Alexander M. den Ausschluss der beiden Frauen und ihrer Anwältinnen. Als »Kleinkriminalität« und bloßes »Rumpöbeln im Internet« verharmlost er die Drohungen des »NSU 2.0«, für die er gleichwohl nicht verantwortlich sein will.

Nebenklagevertreterin Kristin Pietrzyk aber bleibt cool. Ein Angeklagter habe keinerlei Einspruchsrecht gegen die Zulassung zur Nebenklage, erklärt sie knapp. »Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung.« Das hätten Alexander M. auch seine Verteidiger sagen können. Doch mit denen will er sich ausdrücklich nicht beraten, bevor er seinen mit Paragrafen gespickten Antrag stellt.

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