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Finnland debattiert erstmals NATO-Beitritt
Angesichts der russischen Invasion in der Ukraine sieht die Regierung in Helsinki eine verschärfte Sicherheitslage
Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat vieles verändert in Europa und Jahrzehnte lange Tabus und Doktrinen in Frage gestellt. So auch in Finnland, das wegen seiner langen Grenze und geschichtlicher Erfahrungen nicht den Wunsch hat, den russischen Nachbarn unnötig herauszufordern. Schon die Entscheidung, Panzerabwehrwaffen in die Ukraine zu schicken, ist mutig und hat eine gereizte Reaktion in Moskau hervorgerufen.
Die Nato-Mitgliedschaft wurde bisher nur als hypothetische Möglichkeit betrachtet, auf deren Einlösung man bestand, um seine Souveränität zu unterstreichen. Das war die Haltung seit dem Ende des Kalten Krieges und Staatspräsident Sauli Niinistö sah sich seit Dezember 2021 mehrfach genötigt, diese prinzipielle Möglichkeit und die freie Entscheidungsgewalt Finnlands zu unterstreichen. Putins Drohpolitik nicht nur gegenüber den osteuropäischen, sondern auch den skandinavischen Nachbarländern erwies sich jedoch als kontraproduktiv und veranlasste den Reichstag, das finnische Parlament, erstmals den Nato-Beitritt zu diskutieren. Die Parlamentarier können sich dabei auf einen Bürgervorschlag stützen, diese Option zu behandeln. Dazu ist es verpflichtet, wenn mindestens 50 000 Bürger ihn stützen. Darüber hinaus weisen jüngste Meinungsumfragen einen Meinungsumschwung auf und gegenwärtig stützen 53 Prozent der Befragten den Beitritt. Die Jahrzehnte lange Zustimmung lag ansonsten zwischen 15 und 25 Prozent und die höheren Zahlen wurden erst nach der Besetzung der Krim registriert.
In der Parlamentsdiskussion wurde klar, dass die Meinung der Parlamentarier genauso geteilt ist wie die Bevölkerung. Die bürgerlichen Parteien äußerten sich vorsichtig positiv, verwiesen aber auch darauf, dass ihre Wähler und Mitglieder beide Hälften der Bevölkerung - positiv beziehungsweise unentschlossen oder ablehnend - repräsentieren. Lediglich die Schwedische Volkspartei sprach sich für den schnellstmöglichen Beitritt aus. Der Grund dürfte sein, dass die schwedische Minderheit vorzugsweise auf den entmilitarisierten Ålandinseln lebt, die strategisch interessant wären für Russland, und sich daher mehr bedroht fühlt als die Festlandfinnen. Die Grünen und die Linkspartei forderten auf, Ruhe zu bewahren und keine übereilten Beschlüsse zu fassen. Im Fall einer langfristigen und steigenden Bedrohung wären sie aber bereit, ihre Standpunkte zu revidieren. Für beide Parteien ist der Widerstand gegen die Nato und der Kampf für Abrüstung Teil der politischen Identität.
Die parlamentarische Diskussion bedeutet nicht, dass bald ein Aufnahme-Ersuchen gestellt wird, aber eine psychologische Hürde ist genommen. Viel interne Abstimmung in den politischen und militärischen Kreisen Finnlands wird notwendig sein. Auch wird Finnland seine Schritte mit Schweden abstimmen. Bisher erschien ein finnischer Nato-Alleingang undenkbar, aber auch dieses Dogma wird nun in Frage gestellt. Möglicherweise muss ein Parlamentsbeschluss auch durch eine Volksbefragung gestützt werden. Ministerpräsidentin Sanna Marin erwartet nicht, dass diese Frage in der laufenden Legislaturperiode des Parlaments, die im April 2023 ausläuft, entschieden wird. Sie kündigte jedoch an, die Ausgaben für die Streitkräfte, die lokalen Milizwehren und den Katastrophenschutz erhöhen zu wollen.
Finnland wie auch Schweden arbeiten bereits eng zusammen mit der Nato, halten gemeinsame Manöver ab und unterhalten gemeinsame Kommunikationslinien. Auch an den gegenwärtigen Konsultationen der Nato zur Ukraine-Krise sind beide Länder beteiligt. Erste, vor Kurzem noch undenkbare Entscheidungen wurden schon getroffen. Die Regierung in Helsinki beschloss Waffenlieferungen an die Ukraine: 1500 Raketenwerfer, 2500 Sturmgewehre und Munition. »Das ist eine historische Entscheidung für Finnland«, sagte Ministerpräsidentin Sanna Marin. Auch Schweden hat mit dem Grundsatz gebrochen, keine Waffen in Konfliktgebiete zu liefern und schickt der Ukraine unter anderem 5000 Panzerabwehrwaffen. Es ist die erste Lieferung dieser Art seit Jahrzehnten. Zuletzt sei dies im Winterkrieg 1939 geschehen, sagte Regierungschefin Magdalena Andersson. Damals unterstützten die Schweden ihr Nachbarland Finnland, das von der UdSSR angegriffen wurde.
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