Tschüss Piñera, du Verbrecher

Chiles neoliberaler Präsident tritt ab und sein linker Nachfolger Gabriel Boric verspricht eine feministische Regierung

  • Sophia Boddenberg, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 4 Min.

»Tschüss Piñera, du Verbrecher«, lautete das Motto einer feministischen Protestaktion vor dem Regierungspalast La Moneda wenige Tage vor dem Regierungswechsel in Chile. Hunderte Frauen blockierten die Hauptverkehrsstraße von Santiago und führten die Performance »Ein Vergewaltiger auf deinem Weg« des chilenischen Kollektivs LasTesis auf, die auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam macht.

Am Freitag wird der 72-jährige Sebastián Piñera seine vierjährige Regierung beenden und die Präsidentenschärpe dem 36-jährigen Gabriel Boric umhängen, der 2011 bei den Studierendenrevolten gegen Piñera während dessen erster Amtszeit protestiert hatte. Nicht nur ein Generationenwechsel, auch ein politischer Richtungswechsel steht bevor.
»Der Staat ist ein Macho, der vergewaltigt«, riefen die Frauen vor dem Regierungsgebäude. Mit der Performance von LasTesis richteten sie sich gegen den scheidenden Präsidenten »wegen seiner Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen«, sagte Daniela Osorio, Sprecherin der feministischen Koordination 8M in der Zeitung »La Nación«. Piñera hatte auf die soziale Revolte 2019 und 2020 mit brutaler Polizei- und Militärgewalt reagiert.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Mehr als 30 Menschen kamen dabei ums Leben, Tausende wurden verletzt. 476 Anzeigen von sexualisierter Gewalt durch Polizei und Militär registrierte das Nationale Menschenrechtsinstitut, darunter Missbrauch, Folter und Vergewaltigung. Verurteilt wurde bisher fast niemand. Piñera wird das Präsidentenamt verlassen, ohne für die Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen worden zu sein.

Der neue Präsident Gabriel Boric kündigt Wiedergutmachung und Gerechtigkeit für die Opfer an. Und er verspricht eine »feministische Regierung«. Eine Woche vor seinem Regierungsantritt forderte er in einer Rede »insbesondere die Männer« dazu auf, »dieses Versprechen ernst zu nehmen, um mit der Regierung einen Beitrag zum kulturellen Wandel zu leisten, den die feministische Bewegung angestoßen hat«.

Die feministische Bewegung hat sich in den vergangenen Jahren zu einer treibenden politischen Kraft in Chile entwickelt. Sie war ein wichtiger Antrieb der sozialen Revolte, die dazu führte, dass jetzt eine demokratisch gewählte Versammlung eine neue Verfassung ausarbeitet, um jene aus der Pinochet-Diktatur zu ersetzen. Der Verfassungskonvent besteht zur Hälfte aus Frauen, darunter mehrere feministische Aktivistinnen. Die Versammlung hat bereits Artikel verabschiedet, um Geschlechterparität und Gender-Perspektive im Justizsystem verfassungsrechtlich zu verankern. Um bei der Stichwahl für das Präsidentenamt im Dezember 2021 die Wahl des rechtsextremen und frauenfeindlichen Kandidaten José Antonio Kast zu verhindern, stellten sich viele autonome feministische Organisationen hinter die Kandidatur von Gabriel Boric.

Chiles neuer Präsident hat seinen Wahlsieg deshalb auch der feministischen Bewegung zu verdanken. Besonders viele junge Frauen unter 30 stimmten bei der Stichwahl für ihn. Bei der Zusammensetzung seines Kabinetts setzte Boric ein erstes Zeichen: 14 der 24 Ministerien sind von Frauen besetzt. Mit Antonia Orellana wird das Frauenministerium zum ersten Mal in der Geschichte von einer feministischen Aktivistin geführt. Sie kündigte an, dass jedes einzelne Ministerium mit Gender-Perspektive arbeiten wird.
Boric verspricht neben der Stärkung des Frauenministeriums die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, sexuelle Bildung an Schulen, ein Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt und ein nationales Pflegesystem. Frauen in Chile widmen derzeit doppelt so viel Zeit der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit wie Männer. Die neue Regierung will außerdem eine allgemeine Krankenversicherung einführen und das private Rentensystem reformieren.

»Wir hoffen und fordern, dass die Regierung die feministischen Vorschläge umsetzt, die sich im Programm befinden«, sagt Daniela Osorio. Die feministische Koordination 8M wolle ihre vom Staat autonome Position beibehalten. Beim jährlichen »Plurinationalen Treffen derer, die kämpfen« im Februar erarbeiteten 100 Teilnehmer*innen von mehr als 50 Organisationen aus ganz Chile ein eigenes feministisches Programm. Dazu gehört unter anderem die Garantie von Grundrechten wie der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, nicht-sexistischer Bildung, sexuellen und reproduktiven Rechten sowie würdevollen Renten und einer öffentlichen Gesundheitsversorgung.

Grundlage für die Umsetzung seien die Basisorganisation und der Protest auf der Straße. Alle Veränderungen seien »von der Straße und von der Revolte« angestoßen worden, so Osorio. Am Weltfrauentag protestierten Tausende Frauen im ganzen Land. Feministische Organisationen riefen zum »produktiven und reproduktiven Streik« auf.
Die Erwartungen an die neue Regierung sind groß. Ob Boric sein Programm umsetzen kann, hängt von der neuen Verfassung ab, die in diesem Jahr ausgearbeitet wird vom Parlament, in dem seine Regierungskoalition Apruebo Dignidad (Ich stimme der Würde zu) keine Mehrheit hat – und von der Unterstützung der sozialen Basisorganisationen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
Dazu passende Podcast-Folgen:

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -