Gegen die Sprachlosigkeit

Die Flüchtlinge aus Palästina und ihre Nachkommen leiden im Ausland unter einer Identitätskrise: Eine Studie von Sarah El Bulbeisi

  • Helmut Dahmer und Susi Anderle
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit ein paar Jahrzehnten haben sich Soziologen und Psychologen mit den Folgen von Verfolgung, Vertreibung, Deportation und Ermordung ganzer Ethnien - einem Erbe des barbarischen 20. Jahrhunderts - befasst. Im Zentrum standen dabei der »Zivilisationsbruch« des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden und dessen verheerende Folgen für die Überlebenden, für die Diaspora-Judenheit und für deren nachfolgende Generationen. Gegen große Widerstände, gegen den Wunsch, das entsetzliche Geschehen zu beschweigen und zu vergessen, ist der Holocaust der europäisch-amerikanischen Öffentlichkeit allmählich - als Katastrophe der Katastrophen - zu Bewusstsein gekommen.

Andere Massenverbrechen - die in den Kolonien, das an den Armeniern, die des Stalin-Regimes oder die lange Reihe von Kriegsverbrechen, Vertreibungen, Terror- und Vernichtungsaktionen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg - wurden durch die Shoah gleichsam »relativiert«, und das heißt: Sie hatten kaum eine Chance, als »Realität« wahrgenommen zu werden, ins »Weltbild« der Mehrheit Eingang zu finden. So steht es auch um das besondere Schicksal der Flüchtlinge aus Palästina und ihrer Nachkommen.

Jüdische Einwanderer aus Ost- und Mitteleuropa, die vor Pogromen flohen oder - nach dem Zweiten Weltkrieg - den Holocaust überlebt hatten, mussten sich gegen arabische Aufstandsbewegungen und die englische Mandatsmacht durchsetzen; dabei ging es nicht nur um das Recht auf Einwanderung, sondern vor allem um Landnahme für einen jüdischen Staat. Im Unabhängigkeitskrieg der Jahre 1947 bis 1949 eroberte sich ein Drittel der Überlebenden des »Volks ohne Land« in Palästina ein Siedlungsgebiet und trieb im gleichen Zug einen Teil des dort lebenden palästinensischen Volks in die Land- und Staatenlosigkeit.

Die so entstandene palästinensische Diaspora hat heute in Deutschland (wo mit etwa 80 000 Menschen die größte palästinensische Gruppe Europas lebt) wie auch in der Schweiz mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen, da die Mehrheitsgesellschaft zum einen in der Vertreibung eines Teils der arabischen Bevölkerung aus Palästina keineswegs eine indirekte Folge des Holocausts sieht und zum anderen »alle« Palästinenser verdächtigt, potenzielle Flugzeugentführer, Geiselnehmer und Selbstmordattentäter zu sein, also »antisemitische« Feinde des Staates Israel, dessen Existenzrecht zu verteidigen in beiden Ländern zur »Wiedergutmachungs«-Politik gehört.

So sitzen die Palästinenser der ersten und zweiten Generation »zwischen allen Stühlen« und leiden unter ihrer eigenen, intergenerationellen Sprachlosigkeit (wenn es um die Vertreibung, die »Nakba«, geht) und unter der »Nicht-Anerkennung« ihrer spezifischen Situation durch Politik und Öffentlichkeit.

Sarah El Bulbeisi bezieht sich in ihrer (2020 veröffentlichten) Studie »Tabu, Trauma und Subjektivität« auf den palästinensischen Kulturhistoriker Edward Said, der zum einen vom Misstrauen der Exilanten gegenüber einer Gesellschaft sprach, der sie sich nicht zugehörig fühlen und die sie als (ihnen gegenüber) feindselig wahrnehmen, zum anderen von der Furcht der Expatriierten vor der leisesten Abweichung (vom Narrativ der Gemeinschaft, der sie sich zugehörig fühlen), die sie als Verrat und Illoyalität empfinden.

Das »unglückliche Bewusstsein« (Hegel) der sich selbst und der Gesellschaft, in der sie jetzt leben (oder bereits aufgewachsen sind), entfremdeten Palästina-Vertriebenen der ersten und zweiten Generation ist El Bulbeisis Thema. Sie ist selbst Palästinenserin, arbeitet am Orient-Institut Beirut, und ihre sozialpsychologisch orientierte Münchner Dissertationsschrift soll, indem sie die Sprachlosigkeit und »Unsichtbarkeit« ihrer Landsleute in den Gastländern zur Sprache bringt und die Komponenten ihrer Identitätskrise analysiert, Auswege aus dem Labyrinth zeigen, in dem sie gefangen sind.

Nach einer anspruchsvollen theoretischen Einleitung, in der sie sich auf Texte u. a. von Freud, Fanon, Mbembe und Butler bezieht und ihre Methode erläutert, einer historischen Skizze der Vertreibungsgeschichte und einem Überblick über heutige palästinensische Diaspora dokumentiert, interpretiert El Bulbeisi 39 Oral-History-Interviews mit Landsleuten, die seit den 1960er Jahren auf verschiedenen Wegen nach Westdeutschland oder Berlin und (dann) in die Schweiz kamen, um Arbeit zu finden oder zu studieren. Das Ergebnis dieser Interviews sind vier Fallgeschichten - Facetten eines Porträts exilierter Palästinenser - und ein Fundus von (biografischen) Erzählungen und Gesprächsprotokollen, in denen es um die Abhängigkeit von herrschenden »Narrativen« (»Diskursen«) und um die Möglichkeit geht, sich von ihnen zu distanzieren.

»Schreibend hoffe ich«, schreibt El Bulbeisi, »eine notwendige Debatte über die Mitverantwortung Westeuropas für die palästinensische Leidens- und Unrechtserfahrung (anhaltende ethnische Säuberung, Entrechtung, Enteignung) anzustoßen«. »Durch die Einbettung palästinensischen Leids in das Leid der Indigenen, der Schwarzen, aber auch der Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Europa, wurde es universalisiert. [Dadurch] wird die Möglichkeit sichtbar, Palästinensischsein nicht nationalistisch, sondern humanistisch zu denken: als zugehörig zu einer übernationalen Erfahrungsgemeinschaft mit einem intersektionalen Bewusstsein von Unterdrückung.«

Sarah El Bulbeisi: Tabu, Trauma und Identität. Transcript-Verlag, 322 S., br., 45 €.

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