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Die Sorge der Literatur
Das Geschlechterverhältnis ist dem Schreiben nicht äußerlich: Ein Workshoptag hat sich mit dem Verhältnis von Literatur und Care beschäftigt. Jenseits der Klischees von Frauen- oder Männerliteratur ging es um die künstlerische Gestaltung des Themas und konkrete Arbeitsbedingungen
»Männer enteignen!« Das forderte Jacinta Nandi bei einer Lesung im Literaturforum im Brecht-Haus, um die vergeschlechtlichten Ungerechtigkeiten im Zusammenhang mit Sorgearbeit zu lösen. Die Lesung und Diskussion unter dem Titel »Writing with Care« waren Teil eines zweitägigen Workshops, den das »Forum für linke Literaturwissenschaft« Undercurrents zum Thema »Literatur und Care« veranstaltete. Die Veranstaltung versuchte eine doppelte Perspektive einzunehmen: Wie lässt sich von Care auf Literatur und von der Literatur auf Care blicken? Dabei landete die Diskussion immer wieder auf folgenden Fragen: Welche Traditionen und Formen des Schreibens über Care gibt es? Welche politische Kritik artikuliert sich in der Literatur? Ist Literatur auch ein Möglichkeitsraum, um als eine Art politisches Korrektiv Auswege aufzuzeigen? Und schließlich: Was fällt alles unter den Begriff Care, wo wird er gar ungenau?
Der Begriff »Care« - Englisch für Kümmern, Pflege, Sorge und Sorgfalt - umfasst analytisch wesentlich mehr als die Hausarbeit, um die es in den Diskussionen der Zweiten Frauenbewegung in den 1970ern maßgeblich ging. Beide Begriffe, Care und Hausarbeit, sollen das Problem benennen, dass diese Tätigkeiten mehrheitlich von Frauen* und meist unbezahlt verrichtet werden. Die Kampagne »Lohn für Hausarbeit« wies bereits in den 1970ern auf Defizite der marxistischen Theorie hin: Auch wenn sie nicht entlohnt seien, müssten die Haushaltstätigkeiten als Arbeit begriffen werden. Kochen, putzen und einkaufen seien auch dann Arbeit, wenn sie nicht von bezahlten Haushälterinnen ausgeführt würden, ebenso fielen darunter Sex und emotionale Sorgetätigkeiten wie Trost und Zuspruch. Dieser Spannbreite trugen die feministische und die sozialwissenschaftliche Diskussion der vergangenen Jahre mit dem Begriff Care Rechnung. Die schlechte Bezahlung etwa der Arbeit im Pflegesektor ist bereits in der Corona-Pandemie etwas mehr ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt. Auch an die Schwierigkeiten in der Kinderbetreuung hat die Pandemie selbst diejenigen erinnert, die keine Kinder haben, aber von den Problemen ihrer Arbeitskolleg*innen hörten. Typisch für den Care-Bereich sind Arbeiten, bei denen es gesellschaftlich besonders stark auffällt, wenn sie nicht mehr ausgeführt werden - anders als bei vielen Bürojobs, die relativ leicht ins Homeoffice verlagert werden konnten, um dort aber mit der Heimarbeit zu konkurrieren.
Literatur als Sorgetätigkeit
Gemein ist den meisten Care-Tätigkeiten, dass sie als Arbeit häufig unsichtbar sind, weil sie in der Privatsphäre stattfinden - das gilt selbst dort, wo sie, wenn auch zumeist gering, entlohnt werden. Entsprechend mobilisiert das Netzwerk »Care Revolution« regelmäßig zum 1. Mai als dem »Tag der unsichtbaren Arbeit« und am diesjährigen 8. März unter dem Motto »An Care denken«. Die sozialwissenschaftliche Diskussion kennt bereits ganze Buchreihen zum Thema oder fortlaufende Diskussionen in wissenschaftlichen Zeitschriften. Nur die Literaturwissenschaft hinkte bisher hinterher, dabei betreibt sie doch sonst so gerne »Theorieimporte«, wie Annika Klanke in ihrer Einführung zum Workshop im Brecht-Haus betont. Ein Beispiel für einen solchen Theorieimport liefert die Büchner-Gesellschaft: Sie stellte ihre diesjährige Tagung unter das Motto »Büchners Pflanzen«, um dem Trend der »Plant Studies« als Ergänzung zu den »Animal Studies« gerecht zu werden.
Gerade Büchners Werk wäre allerdings auch ein guter Ausgangspunkt, um sich der Darstellung von Sorgearbeit in der Literatur zu widmen, etwa in den Szenen in seinem Theaterstück »Woyzeck«, in denen Marie bei der Betreuung des Kindes gezeigt wird, oder wenn die Großmutter eine Geschichte erzählt. Denn auch das Erzählen wird auf dem Workshop als Care-Tätigkeit begriffen, womit Literatur zu einer Form der Sorge um andere wird - und um sich selbst. Das Kollektiv »Undercurrents« blickt seit 2012 mit einer zweimal im Jahr erscheinenden Zeitschrift kritisch auf den literaturwissenschaftlichen Betrieb. Die jüngste Ausgabe von 2021 etwa, die ebenfalls auf einen Workshop am Literaturforum im Brecht-Haus zurückgeht, suchte unter dem Titel »Die Fäden neu verknüpfen« nach »Linken Narrativen für das 21. Jahrhundert«.
Den jüngsten Workshop »Literatur und Care« eröffneten Liza Mattutat und Judith Niehaus mit einem Beitrag in Form eines E-Mail-Wechsels. Sie erinnerten an Texte von Autorinnen wie Caroline Muhrs »Freundinnen«, das im gleichen Jahr wie die Kampagne »Lohn für Hausarbeit« erschien, und warfen entsprechend die Frage auf, ob die Literatur damals auf eine aktuelle Diskussion reagiert oder diese gar mit ausgelöst habe. Ebenso verhandelten sie die erkenntnistheoretische Frage, ob Literatur die gleichen Erkenntnisse vermitteln kann wie politische Theorie, nur auf anschaulichere und konkretere Weise, da sie nicht auf einen Beispielcharakter beschränkt ist.
Der Beitrag von Mattutat und Niehaus eröffnete zudem zahlreiche historische Perspektiven: Mit der Form des E-Mail-Wechsels schlossen die beiden an die Tradition des Briefromans an, eine Gattung, die besonders von Frauen etabliert wurde. Dies gilt, obwohl der berühmteste deutschsprachigen Briefroman Johann Wolfgang von Goethes »Die Leiden des jungen Werther« ist, der sehr wenig dialogisch ist und dem männlichen Protagonisten vor allem zur Selbstbespiegelung dient. Zudem erschien das Buch erst drei Jahre nach dem - tatsächlich dialogischen - Briefroman »Geschichte des Fräuleins von Sternheim« der Autorin Sophie von La Roche, der als erster deutschsprachiger Briefroman gilt. Auch wenn dieser Roman von ihren zumeist männlichen Zeitgenossen stark rezipiert wurde, geriet er bald wieder in Vergessenheit. Erst die feministische Literaturwissenschaft der 1980er Jahre rückte das Buch wieder in den Blick.
In der Rezeption wurde die »Geschichte des Fräuleins von Sternheim« vor allem als »Frauenroman« einsortiert, ein Etikett, das auch Muhrs Roman »Freundinnen« anhaftet, ebenso zahlreichen anderen im Workshop diskutierten Texten, die Sorgearbeit literarisch problematisieren. Mit Bezeichnungen wie »Frauenliteratur« oder »Küchentischliteratur« wird faktisch eine Abwertung der Literatur von Frauen* vorgenommen, von einer komplementären »Männerliteratur« würde kaum jemand sprechen. Bezeichnenderweise waren es auf dem Workshop mehrheitlich Literaturwissenschaftlerinnen, die sich mit Thema beschäftigten und ihre eigene Rolle als Mütter mit reflektierten. Väter glänzten dagegen durch Abwesenheit.
Was die Literatur von Frauen* tatsächlich häufig ausmacht, wie auf dem Workshop vor allem anhand von Virginia Woolfs Essay »Ein Zimmer für sich allein« diskutiert wurde, ist eine spezifische Schreibsituation: Weil Frauen lange Zeit die Care-Tätigkeit vollständig übernehmen mussten, thematisieren Autorinnen nicht nur diese stärker, sondern problematisieren auch die notwendige räumliche Trennung zwischen Sorgearbeit und Schreiben. Das eigene Schreibzimmer, in dem sonst das männliche vermeintliche Genie verortet wurde, ist nicht umsonst die Voraussetzung, die es Virginia Woolf zufolge auch den Frauen überhaupt erst ermöglichte, zu schreiben.
Ein Raum für sie selbst
Bereits 100 Jahre vor Virginia Woolf, zum Anfang 19. Jahrhunderts, sehnte sich auch die Schriftstellerin Sophie Mereau nach einem solchen Raum für sich selbst und problematisierte in diesem Zusammenhang den Zeitmangel aufgrund ihrer Mutterschaft, der sie in der literarischen Produktion beschränkte. Alena Heinritz schritt in ihrem Workshop-Beitrag die historischen Schwellen 1800, 1900 und 2000 ab indem sie zeigte, wie sich das Verhältnis von Mutterschaft und Autorinnenschaft ausgehend von Sophie Mereau über Franziska zu Reventlow bis zu der Gegenwartsautorin Rachel Cusk gewandelt hat. Heinritz beobachtet hier eine Professionalisierung des Schreibens, die aber nicht dazu geführt habe, die Entgrenzung der Arbeit zu beenden. Im Gegenteil seien sowohl Mutterschaft als auch Schreiben »entgrenzte Arbeiten« geblieben, was durch gegenwärtige hohe Ansprüche in puncto Selbstverwirklichung nur weiter verstärkt würde.
Inwiefern fürsorgliche Handlungen gesellschaftlich vergeschlechtlicht werden, zeigte auch ein Blick in die mittelhochdeutsche Epik. In ihrem Beitrag befragte Charlotte Carl Hartmann von Aues »Gregorius«, einen mittelalterlichen Text, zum Verhältnis von Care und Gender: Zwar wurde Fürsorge in der christlichen Ethik geschlechtsunabhängig als Tugend begriffen, aber die tatsächlichen Fürsorgehandlungen waren trotzdem weiblich konnotiert. Im »Gregorius« werden sie zur tugendhaften Vervollkommnung einer männlichen Figur benutzt. Während dieses theologische Konzept von der heutigen Weltsicht denkbar weit entfernt scheint, kann man es polemisch gesprochen auch in der Gegenwart finden: in der Art, wie viele Männer um Lob und Anerkennung heischen, wenn sie Tätigkeiten wie Putzen oder Kinderbetreuung übernehmen, die für Frauen* leider nur zu selbstverständlich sind.
Diego Léon-Villagrá dokumentierte in seinem Beitrag eine Konjunktur von Texten, die sich mit der Pflege und dem Sterben von Angehörigen beschäftigen. Die Texte handeln von zutiefst persönlichen Erfahrungen und Sorgen, aber sie bergen auch eine kollektive Dimension, rühren an den wunden Stellen unserer Gesellschaft. Vor dem Hintergrund des bisher Dargestellten überrascht es dabei nicht, dass die meisten gegenwärtigen Texte über Pflege von Autorinnen stammen. Wenn man das Etikett »Frauenliteratur« nicht abwertend begreift, trifft es einen traurigen Kern: Mehrheitlich Frauen übernehmen die Pflege der sterbenden Angehörigen, und sie sind es auch, die schließlich die Berichte darüber schreiben - wie etwa Charlotte Link in ihrem Buch »Sechs Jahre«. Diese angeblichen »Frauentexte« werden dann, vermeintlich zielgruppengerecht, eher in der »Brigitte« besprochen als in der FAZ.
Schreiben mit Sorgfalt und Wut
Von der Erfahrung der Pflege und des Sterbens von Angehörigen erzählt derweil auch Maren Wurster in ihrem Buch »Papa stirbt, Mama auch«. Die Mutter im Pflegeheim und der Vater auf der Intensivstation sind Ausgangspunkte einer autobiografischen »Archäologie des Verlusts«. Gleichzeitig adressiert Wurster hier auch ein allgemeines, doppeltes Problem unserer Gesellschaft: Nicht nur die Auseinandersetzung mit den Care-Tätigkeiten ist unter derzeitigen Verhältnissen ein großes Defizit. Wir leben außerdem in einer Kultur, in der das Wissen über den Tod und die Beschäftigung mit Sterben und Trauer immer noch weitgehend verdrängt werden. Wurster ist Teil des Kollektivs »Writing with CARE/RAGE«, das auch titelgebend für die Abendveranstaltung des Workshops war: die Lesung und Diskussion »Writing with Care«, in der sich Jacinta Nandi, Frédéric Valin und Wurster erneut den Begriff Care vornahmen. So handle »Writing with Care« nicht nur vom Schreiben über Care-Tätigkeiten, auch Schreiben als Selbstfürsorge oder schlicht mit Sorgfalt falle darunter. Aber für die Sorgfalt fehlt eben häufig, wie bereits gesagt, der eigene Raum und die Zeit. In diesen Zusammenhang stellte Jacinta Nandi den Vorwurf an ihr Buch »Die schlechteste Hausfrau der Welt«, der Text sei zu brüchig. Nandi entgegnete dem, sie könne häufig nur in zehnminütigen Pausen zwischen Care-Tätigkeiten hastig ein paar Zeilen schreiben.
Ähnliches berichtete Frédéric Valin, Autor des 2021 erschienenen Buches »Pflegeprotokolle«, in denen Pfleger*innen von ihren Erfahrungen und ihrem Alltag berichten. Valins eigene Schreibtätigkeit leide aufgrund seiner Arbeit als Pfleger, ihm fehle häufig die Konzentration - den »großen Roman« werde er unter diesen Bedingungen nicht schreiben können. Die Care-Tätigkeit zwinge insofern zu einer fragmentarischen Form. Als Akt der Selbstbehauptung und Selbstfürsorge gegen einen Literaturbetrieb, der weiterhin die Romanform erwarte, machte Valin stark, dass die Frage für ihn keine Rolle spiele, ob seine Texte hier als Literatur wahrgenommen würden. Während eine Funktion dieser Literatur über Care also in der Selbstfürsorge besteht, stellt sich auch die Frage nach den Leser*innen. Nandi bestreitet, bestimmte Adressat*innen im Kopf gehabt zu haben, zeichnen die Reaktionen auf ihr Buch doch ein deutliches Bild des Geschlechterverhältnisses: Männer gaben ihr zu verstehen, sie fühlten sich in der Darstellung des untätigen Vaters in »Die schlechteste Hausfrau der Welt« nicht angesprochen. Frauen dagegen würden sich in dem Text durchaus wiedererkennen und nie behaupten, er verzerre die Realität.
Die Diskussion auf der Abendveranstaltung berührte auch eine wesentliche Differenz und Hierarchisierung, die hierzulande zwischen unterschiedlichen Pflegetätigkeiten aufgemacht wird. Während die Alten- und Krankenpflege eher abgewertet und häufig an billige weibliche Arbeitskräfte aus dem osteuropäischen Ausland externalisiert wird, ist Kinderbetreuung, gerade wo sie unbezahlt ist, durchaus romantisiert. Hier fragte Jacinta Nandi provokativ, ob sie eine schlechte Feministin sei, wenn ihr das Kümmern um ihre Kinder Spaß mache.
Leerstelle Systemkritik?
Damit offenbarte sich ein zentrales Defizit der Diskussion: Es fehlte die systemkritische Position, die einen Streik fordert oder an die »Lohn für Hausarbeit«-Debatte anschließt. Und da die Kinderbetreuung eben letztlich von irgendjemandem übernommen werden muss, wird die Frage nach der Verantwortung personalisiert. Ansätze, die über die Literatur hinaus Systemkritik übten, gab es auf dem Workshop trotzdem genug. So zeigte Sonakshi Srivastava, wie aus Romanen, die von der Erwartungshaltung an Mütter handeln, eine Kritik an der Familie und den gesellschaftlich Verhältnissen durchscheint, die diese Erwartungshaltung produzieren. Diese Texte würden eine unterschiedliche Perspektive auf die Gefühle eröffnen, die mit Care verbunden sind: Pflege und Sorge seien primär mit positiven Gefühlen wie Liebe besetzt, auch wenn es häufig vor allem um Verantwortung ginge. Die Literatur finde dagegen eine Sprache, um negative Gefühle wie Wut darzustellen, die faktisch Teil von Sorgearbeit sind. Literatur sei auch der Ort, um Empathie für die Sorgenden mit negativen Gefühle zu ermöglichen.
Literatur bildet aber auch subversive und unorthodoxe Sorgepraxen ab, wie Charlotte Alex an dem Roman »Shuggie Bain« aufzeigte. Darin entwirft Douglas Stuart einen Protagonisten, der vor dem Hintergrund der Bergarbeiterstreiks in Co-Abhängigkeit mit seiner alkoholkranken Mutter lebt. Die Politik des britischen Neoliberalismus unter der Premierministerin Margaret Thatcher mit ihren drastischen Einschnitten in den Sozialstaat führt dazu, dass die beiden Protagonist*innen aus der Arbeiterklasse ökonomisch weitgehend auf sich allein gestellt sind. Auch die mangelnde Solidarität ihrer Klasse zwingt sie zur vereinzelten Sorge umeinander. Damit wird die politische und staatliche Komponente des Spannungsfeldes Care umso sichtbarer. Wie meisten der diskutierten literarischen Texte stellt auch »Shuggie Bain« keine politische Alternative in Aussicht, entlarvt aber die kritischen Punkte, an denen Care eigentlich eine Gesellschaft als Ganze angeht.
Nicht nur inhaltlich, auch in der literarischen Form und in der Organisationsform der Autor*innen präsentierte der Workshop eine Reihe widerständiger, patriarchatskritischer Praktiken. Ebenso wie die fragmentarische Form an der männlichen Genieästhetik und der dominanten Erwartung vom »großen Roman« rüttelt, stoßen kollektive Schreibpraktiken das Ideal vom männlichen, individualistischen Künstler vom Sockel. So wurde der Workshop selbst von einem literaturwissenschaftlichen Kollektiv organisiert und auch Schreibkollektive waren sehr präsent. Am zweiten Abend etwa diskutierte Lene Albrecht, die wie Maren Wurster dem Kollektiv »Writing with CARE/RAGE« angehört, mit Katharina Bendixen und Barbara Peveling als Vertreterinnen des Blogs »other writers need to concentrate«. Dieser wurde gegründet, um auf die prekären Bedingungen von Autor*innen mit Kindern im Literaturbetrieb aufmerksam zu machen: wenn etwa Stipendien mit der Begründung abgelehnt werden, die dem Blog den Namen gab.
Er bildet die strukturelle Benachteiligung sowohl in literarischer als auch in dokumentarischer Form ab, mit »Rarely Asked Questions« zu Elternschaft im Literaturbetrieb. Deutlich wird hier, dass Care-Tätigkeiten anscheinend auch zur einer Sorgepraxis unter den Schreibenden selbst führen. Die anonyme und kollektive Schreibweise des kollaborativen Schreibprojekts »Fragment I« von »Writing with CARE/RAGE« erinnert wiederum an avantgardistischen Praktiken. Für die hat der Buchmarkt allerdings ebenso wenig Raum wie für Elternschaft: »Zwei Romane in fünf Jahren? Da haben Sie sich aber Zeit gelassen«, heißt es in dem mehrstimmigen Text.
Auch die Abwertung von Kinder- und Jugendliteratur im Literaturbetrieb problematisiert Bendixen. So wie der Begriff »Frauenliteratur« eine männliche Norm zementiere, so markiere auch der fehlende Begriff »Erwachsenenliteratur«eine Norm, der gegenüber alles andere geringer geschätzt wird. Dabei besticht die Kinder- und Jugendliteratur nicht nur durch ihren ökonomischen Anteil am Buchmarkt, sondern ihr eignet gerade durch ihren persönlichkeitsprägenden Anspruch ein utopischer und revolutionärer Gehalt. »Die Revolution fängt für mich damit an, dass ich in meinen Texten die gesellschaftlichen Narrative nicht versuche zu übernehmen, sondern Alternativen anbiete«, betonte Bendixen.
Literatur als Möglichkeitsraum und Utopie erforschte auch der Workshop-Beitrag von Ute Kalender und Aljoscha Weskott. Ihre »Flanierende Ethnografie« beschäftigte sich mit der digitalen Sorgearbeitsdebatte, Glitch-Feminismus und schwarzem Cyberfeminismus. Analog zur Hausarbeit, die als unbezahlte Arbeit aus dem Begriffsfeld der Arbeit verschwindet, hat die Medienwissenschaft den Begriff der »digitalen Hausfrau« eingeführt. Die digitale Hausfrau ist ein polemisches Konzept, das feminisierte Tätigkeiten beschreiben soll. Gemeint sind Praktiken in sozialen Netzwerken wie Liken, Chatten und Taggen, die ebenfalls als Tätigkeiten im Sinne einer Arbeit begriffen werden, die größtenteils unsichtbar und prekär bleiben. Wo diese Ausbeutung zumindest gering bezahlt wird, ist sie ausgelagert auf »Clickworker« in der globalen Peripherie.
Wiebke von Bernstorff und Yasemin Dayıoğlu-Yücel kommentierten in ihrem Beitrag, wiederum in fragmentarischer Form, das Achtsamkeitsdispositiv und die Dimension von Zeit als gesellschaftlicher Herrschaft aus Care-Perspektive. Vielen Mütter bleibt etwa für Achtsamkeit und Selbstfürsorge keine Zeit, weil sie ständig abwägen müssen, wann zwischen Waschen, Kochen und der Vereinbarung von Arztterminen noch Zeit bleibt für das Verfassen von E-Mails und wissenschaftlichen Anträgen.
Das Lohnpatriarchat abschaffen
Von der Literatur führte der Blick auch zur literaturwissenschaftlichen Produktion der Beitragenden, die immer wieder hinter die zeitaufwendigen und notwendigen Reproduktionstätigkeiten zurücktreten müssen, und so findet schließlich auch die prekäre Arbeit der Veranstalter*innen selbst Eingang in die Diskussion. Hier wurde nun die politische Forderung nach deutlicher Arbeitszeitverkürzung formuliert. Auch erschallt der Ruf nach mehr finanzieller, nicht nur symbolischer Anerkennung, leider erst in diesem letzten Workshop-Panels. Und erst beim Abschlussgespräch über Schreiben und Care im Literaturbetrieb erwähnte Lene Albrecht die Möglichkeit von Streik als Widerstandsform - mit der Einschränkung, wie schwierig das in der Realität sei, weil die Sorgetätigkeiten dann niemand mehr ausführt. Damit illustrierte sie einen Widerspruch, der entsteht, wenn gerade notwendige reproduktive Tätigkeiten nicht bezahlt werden.
Mehr als die grundlegende Kapitalismuskritik, Streik und Arbeitskämpfe blieb das Thema des Workshops aber die literaturwissenschaftliche Begriffsarbeit. In der Abschlussdiskussion wurde in diesem Sinne zurecht die Frage aufgeworfen, ob der Care-Begriff nicht teilweise zu weit gefasst sei. Statt etwa die Sorge um den Planeten, die Sorge um sich oder die große Zahl Sorgetätigkeiten darunter zu fassen, seien vielleicht doch die Begriffe der Hausarbeit oder der Reproduktionsarbeit genauer, die marxistische Theoretikerinnen wie Silvia Federici benutzen. Federici selbst fordert in ihrem Artikel »Die Revolution beginnt zu Hause«, dass wir den »Marxismus und den Kapitalismus aus der Perspektive des Reproduktionsprozesses neu denken (…) aus der Erkenntnis heraus, dass es sich hier um das strategisch wichtigste Feld sowohl im Kampf gegen den Kapitalismus als auch für den Aufbau einer Gesellschaft handelt, die nicht auf Ausbeutung beruht.« Einen »Grund für die ungebrochene Wirkkraft der Marx’schen politischen Theorie« sieht sie in dessen »Fähigkeit, die Zukunft zu lesen und Formen der kapitalistischen Entwicklung zu antizipieren, die sich erst jetzt, 150 Jahre später, vor unseren Augen entfalten und aus seinem Werk einen Ratgeber für die Gegenwart machen.« Die widerständigen, utopischen und revolutionären Praktiken für die Veränderung dieser Gegenwart kann Literatur aufzeigen - aber sie gesellschaftspolitisch umzusetzen und damit auch das Patriarchat abzuschaffen, bleibt uns immer noch selbst überlassen.
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