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Geballte Fäuste aus dem Publikum
Philosophisches Volkstheater: Der aus Chile stammende Theatermacher Alejandro Quintana verteidigt an deutschen Bühnen das Brecht’sche Erbe
Am Freitag hat der neugewählte chilenische Präsident Gabriel Boric sein Amt im Palacio de la Moneda angetreten. Der 36-jährige Kandidat der Koalition Apruebo Dignidad steht für einen Umbruch in dem südamerikanischen Land. Wird die neue Verfassung, an der eine demokratisch bestimmte, geschlechterparitätische Versammlung unter Mitwirkung Indigener arbeitet, Mitte des Jahres durch ein Referendum bestätigt, bedeutet das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell. Für den ehemaligen Studierendenführer Boric würde dies angekündigte Reformen im Gesundheits- und Bildungssektor erleichtern.
Die noch gültige Verfassung stammt aus der Pinochet-Diktatur und ist Grundlage der großen sozialen Ungleichheit im Land. Nun scheint sich Chile mit großem Jubel von dieser Zeit abzuwenden und knüpft so auch an die Bemühungen Salvador Allendes Anfang der 1970er Jahre an, eine sozialistische Gesellschaft auf demokratischem Weg aufzubauen. »Seit 50 Jahren versucht die Reaktion in diesem Land, unseren Traum kaputt zu machen. Sie haben es nicht geschafft«, erzählt Theaterregisseur Alejandro Quintana. Jetzt beginne von neuem der Versuch, eine moderne, humanistische Gesellschaft zu organisieren, nur »mit schöneren Gedanken«.
Der 1951 geborene Quintana studierte in Santiago de Chile während der Entwicklung des linken Parteienbündnisses Unidad Popular Schauspielkunst. In den stark politisierten 60er und 70er Jahren engagierte er sich in der Studierendenbewegung und arbeitete am Teatro Nuevo Popular, das unter dem Schutz der nationalen Gewerkschaft gegründet wurde. Nach dem Militärputsch am 11. September 1973 nahm die Botschaft der DDR den nun Verfolgten auf, bis er im Mai 1974 das Land verlassen konnte. Bereits im Botschaftsgebäude spielte er mit ebenfalls emigrierenden Kollegen weiter Theater.
»Wie unterstützen wir aus dem Ausland den Kampf und die Wiedererlangung der Demokratie?«, fragten sich die Exilanten und gründeten das Teatro Lautaro am Volkstheater Rostock. »Die Aufgabe der Gruppe war es, die Sache in Chile am Kochen zu halten und über unsere Probleme zu erzählen«, erinnert sich Quintana. Im Juni 1974 feierte die Gruppe, die in der DDR große Solidarität erfuhr, ihre erste Premiere. »Ein wahrer Strom blutroter Nelken ergoss sich aus den Reihen der Zuschauer über die Künstler«, lobte die »Berliner Zeitung« im Oktober 1974 die Inszenierung »Treffen mit Neruda 1974«. »Geballte Fäuste« und »Venceremos!«-Rufe aus dem Publikum hätten die Sache der chilenischen Künstler*innen unterstützt.
Im Teatro Lautaro seien sie alle Brechtianer gewesen, ohne genau zu wissen, was das heißt, erzählt Quintana, der noch immer nach den Prinzipien des dialektischen Theaters arbeitet. Es waren die späten Schriften Brechts, die die chilenische Gruppe am stärksten beeinflussten. »Die heutige Welt ist den heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie als veränderbare Welt beschrieben wird«, hatte der Dramatiker in den 1950er Jahren seine Methode beschrieben, die dem Publikum Zustände und Vorkommnisse als widersprüchliche zeigt und dies als Position und Standpunkt im Gedankengang der Inszenierung konzeptionell einbaut.
An der Rostocker Schauspielschule studierte Quintana die Brecht’sche Methode und analysierte die Schauspielkunst seines Vorbilds Ekkehard Schall, mit dem er 1988 im Film »Die Bestie« als Regisseur zusammenarbeitete. Später übernahm er - selbst kaum älter als die Studierenden - eine Dozentenstelle wie einige andere Exilanten, die ebenfalls einen Lehrauftrag erhalten hatten.
Dann ging es für ihn weiter nach Berlin. Erst spielte er am Theater der Freundschaft, wenig später fragte ihn Manfred Wekwerth, der damalige Intendant des Berliner Ensembles, ob er an seine Bühne kommen wollte. Was für eine Frage, dachte sich der angehende Regisseur und verbrachte dort einige der schönsten Jahre seines Lebens.
Die konzeptionelle Arbeit und lange Probenphasen gaben ihm den letzten Schliff, erinnert sich Quintana heute. Im Gegensatz zu den sechs Wochen, in denen Projekte gegenwärtig realisiert werden müssen, probierte und recherchierte er zuweilen ein halbes Jahr für eine Produktion. Konfliktfrei stellte sich die Arbeit nicht dar - in Besetzungsfragen mischten die Brecht-Erben beständig mit -, jedoch seien sie mit manchen Stücken an eine notwendige künstlerische Wahrheit herangekommen. Er vermisse diese lange intensive Arbeitsweise nicht, auch wenn sie für seine künstlerische Entwicklung zentral war. »Mit den Jahren lernst du, selektiver zu arbeiten«, meint er. Dann erfahre man die Welt durch ein »Theatersieb«.
Die verkürzten Probenzeiten folgten der kapitalistischen Notwendigkeit, die nach 1989 über die Theater auch in Ostdeutschland hereinbrach. »Über dem Haus, über dem ganzen Land, hing ein großes Damoklesschwert.« Am Berliner Ensemble breitete sich Verunsicherung aus, denn alles, was das Theater repräsentierte, war nicht mehr zu gebrauchen. Es musste etwas Neues her, doch die Gemeinschaftsintendanz von Matthias Langhoff, Fritz Marquardt, Peter Palitzsch, Peter Zadek und Heiner Müller brachte keine Ruhe in das Haus.
Erst in Cottbus überwand Quintana die Lähmung des Übergangs, richtete seine Seismographen für die neue Zeit ein und schärfte seine Instrumente. 1992 übernahm Christoph Schroth die Intendanz des Brandenburger Staatstheaters und zog viele ehemalige DDR-Künstler*innen mit sich, mit denen er seine langen Theaternächte, die legendären »Zonen-Rand-Ermutigungen«, verwirklichte. Dort radikalisierte sich Quintanas Stil: Die Arbeiten wurden schräger, kritischer, magischer und frecher.
»Wenn ich Theater mache, versuche ich, dass die Leute Sehnsucht kriegen nach einem schöneren, humaneren und spaßigeren Zusammenleben«, sagt der Regisseur, der bis 1998 am Staatstheater Cottbus arbeitete - und danach als Schauspieldirektor ans Volkstheater Rostock zurückkehrte. »Ich inszeniere immer dieselbe Sache, es ist egal, welcher Text. Ich will, dass es uns besser geht. Ich will, dass wir begreifen, dass es tödlich ist, wie wir in diesem Rahmen leben.« Mit einem philosophischen Volkstheater will er die Veränderbarkeit der Verhältnisse zeigen. Der Anspruch lässt sich nicht auf eine bestimmte Sparte oder Spielstätte festlegen. Immer geht es um alles. Dafür leistet er Untergrundarbeit und schiebt vermeintlich banalen Stoffen Zweideutigkeiten unter.
Einen Partner, der diesen Anspruch ebenso verfolgt, fand er im Rudolstädter Theater. Philosophisch und politisch konsequent schreiben dessen Intendant Steffen Mensching und Chefdramaturg Michael Kliefert sogar eigene Komödien wie »Hilfe die Mauer fällt«. Zuletzt verwirklichte Quintana in Rudolstadt das Projekt »Die Glaubensmaschine«, in dem er Gedanken statisch aufeinanderprallen lässt. Sonst bevorzugt er einen physischen, schwitzenden Theaterstil, der mit Witz die gesellschaftlichen Widersprüche auseinanderpflückt. So geht er auch im Luzin Theater in Feldberg vor, das er im September 2017 mit seiner Partnerin, der Schauspielerin Sylvia Bretschneider, gründete. In der kleinen Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern stießen die Theaterleute auf Gleichgesinnte, die nun gemeinsam ein regelmäßiges Kulturprogramm mit Soli-Preisen verwirklichen.
Zurück nach Chile zieht es Quintana immer noch, umso mehr, als sich die Lage nun zu wandeln scheint. In Reaktion auf den politischen Umschwung plant er eine Inszenierung von »Don Quichotte« nach der Textfassung des im Dezember verstorbenen Omar Saavedra Santis. Obwohl der Autor Chilene ist, muss sein Stück jetzt aus dem Deutschen ins Spanische übertragen werden, denn auch Santis war in die DDR emigriert. 2009 kehrte er nach Chile zurück. Bei ihm verbindet sich die gesamte Geschichte Chiles mit den Abenteuern des gegen Windmühlen kämpfenden Ritters. Zwar bleiben die neoliberalen und rechten Kräfte im Land stark - sie sind keine eingebildeten Riesen -, doch aussichtslos war der Kampf dort nie. Dieses Wissen treibt Quintana an: ob als Schauspielstudent, als er mit einer Künstlergruppe für die Volksfrontregierung übers Land zog, mit dem Teatro Lautaro oder zurück in Chile. »Venceremos« - »Wir werden siegen« - bleibt das Versprechen seines Theaters.
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