- Wirtschaft und Umwelt
- Einrichtungsbezogene Impfpflicht
Regelung mit Schwachstellen
Wenn es tatsächlich zu Betretungsverboten kommt, entstehen enorme Versorgungslücken
An diesem Dienstag tritt die einrichtungsbezogene Impfpflicht in Kraft. Die Regelung ist umstritten. Das liegt auch daran, dass es nur ungenaue Zahlen dazu gibt, wie hoch die Impfquoten in den betroffenen Kliniken, Pflegeheimen, Praxen sowie bei Pflegediensten tatsächlich sind. Grobe Schätzungen ließen einerseits vermuten, dass etwa beim Schlusslicht Sachsen ein Drittel der insgesamt 300 000 Beschäftigten in diesem Bereich für die Versorgung ausfallen könnten. Andererseits wiegelten Dachverbände und auch Landesregierungen ab, die Impfquoten seien allgemein »sehr hoch«, in Niedersachsen beispielsweise deutlich über 90 Prozent.
Wie aber sieht es bundesweit aus? Einen Eindruck zu den Impfquoten und Folgen eines möglichen Betretungsverbots verschafften sich Wissenschaftler von der Berliner Alice-Salomon-Hochschule mit einer Umfrage, die zwischen dem 23. Januar und 15. Februar durchgeführt wurde. Dazu wurden mehr als 21 000 Mails an Krankenhäuser sowie ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen verschickt. Acht Prozent der Fragebögen konnten in die Auswertung eingehen. Damit wurden Angaben zu insgesamt 1832 Einrichtungen oder Diensten erfasst, und zwar aus allen Bundesländern. Sie betreffen insgesamt fast 130 000 Pflegende, darunter etwa 72 000 Pflegefachkräfte sowie 56 000 Pflegende ohne dreijährige Ausbildung. Die meisten Aussagen kamen von Beschäftigten aus ambulanten Pflegediensten.
Durchschnittlich ergab sich für die Fachkräfte eine Impfquote von 83,6 Prozent. Laut Befund der Forscher liegt die Quote dort höher, wo sie systematisch erfasst wird - verglichen mit Einrichtungen, die sie nur schätzen. Wie zu erwarten war, liegt die Impfquote in den Krankenhäusern mit circa 88 Prozent etwas höher als in der ambulanten und stationären Pflege. Die Quoten liegen in 656 Einrichtungen über 95 Prozent, in 203 anderen jedoch unter 70 Prozent. Für die Pflegenden ohne dreijährige Ausbildung lag die Quote bei etwa 84 Prozent. Die Streuung zwischen den Einrichtungen ist analog zu der bei den Fachkräften.
Abgefragt wurden aber auch die Konsequenzen von Betretungsverboten. Im Durchschnitt über alle Bereiche könnten dann 15 Prozent weniger Menschen gepflegt werden. Davon sei insbesondere die ambulante Pflege betroffen - mit einem Rückgang von fast 20 Prozent. Dies beträfe 200 000 Menschen, die noch zu Hause leben, dort aber von professionellen Pflegekräften versorgt werden.
In Krankenhäusern, in denen mit einem Rückgang von 13 Prozent gerechnet wird, könnten 2,5 Millionen Menschen weniger pflegerisch versorgt werden. In der stationären Langzeitpflege ist ein Rückgang von sechs Prozent zu erwarten, das beträfe 50 000 Menschen. Die höchsten Werte für alle Bereiche werden in Sachsen (31 Prozent) und dann in der Reihenfolge in Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Bayern (18 Prozent) erwartet.
Auf die Frage, welche Maßnahmen sie für eine steigende Impfquote für erforderlich halten, wurde von den meisten Einrichtungen eine allgemeine Impfpflicht genannt - also eine Regel weit über das Personal hinaus, das vulnerable Gruppen versorgt. Weiter befürwortet wurden eine gezieltere Aufklärung, die Bereitstellung alternativer Impfstoffe oder auch finanzielle Anreize. Teils wurde die Abschaffung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht gewünscht.
Für den Pflegeforscher Johannes Gräske, der die Umfrage durchführte, ist das Problem nicht, dass die Teilimpfpflicht jetzt umgesetzt wird. Vielmehr sei zu fragen, so der Wissenschaftler gegenüber »nd«, welche Maßnahmen versäumt wurden, um die Impfquote zu erhöhen. Er vermutet, wegen der Dauer der Überprüfungen werde es kurzfristig keine Engpässe in der Versorgung geben. Aber auch Gräske fordert, die Vorgaben im Gesetz noch zu präzisieren.
Einige der unklaren Punkte betreffen aus seiner Sicht die Bedingungen für Kündigungen und den Bezug von ALG 1 in Folge eines Betretungsverbots; aber auch, wie genau der Begriff »geimpft« definiert ist. Der Eindruck des Pflegeforschers: »Nachdem das Gesetz verabschiedet wurde, fühlte es sich so an, als ob sich alle darauf ausruhen und die Einrichtungen bei der Vorbereitung alleine gelassen wurden. Hier hätten viel dringlicher entsprechende Aufklärungsangebote gemeinsam mit Berufsverbänden, Pflegerat und natürlich den Einrichtungen und Diensten gemacht werden müssen.«
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi kritisiert, dass sich die Impfquote im Gesundheitswesen nicht durch die Teilimpfpflicht erhöhen ließe. Eher müssten die Gruppen in der Gesellschaft gezielt angesprochen werden, in denen die Quote niedrig ist. »Auch geimpfte Beschäftigte im Gesundheitswesen stellen kritische Fragen, warum gerade die Berufsgruppen in die Pflicht genommen werden, die in der Pandemie bereits über psychische und physische Grenzen gehen mussten. Beispielsweise gibt es Unverständnis dafür, dass in der Altenpflege eine Impfpflicht für Beschäftigte gilt, nicht aber für Pflegebedürftige und Angehörige«, erklärte ein Verdi-Sprecher auf »nd«-Anfrage.
Was den Schutz von Interessen der Beschäftigten betrifft, heißt es, dass niemand wegen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht gekündigt werden dürfe, zumal die Nachweispflicht aus dem Infektionsschutzgesetz zunächst bis Ende dieses Jahres befristet sei. Niemand dürfe dem Gesundheitswesen ganz verloren gehen, alle Arbeitskräfte würden gebraucht, gerade auch auf lange Sicht. Für die absehbar strittigen Fälle gebe es »umfangreiche Unterstützungs- und Schulungsangebote für Betriebsräte«. Mehrere Hundert Betriebsräte seien dazu bereits geschult worden.
Offen bleibt in der aktuellen Debatte die Frage, wie eine Abweisung von Patienten und Pflegebedürftigen in der Praxis umsetzbar sein wird. Krankenhäuser könnten Betten »schließen« - oder auch ganze Stationen und das vorhandene geimpfte Personal konzentrieren. Was tun aber die kleinen ambulanten Pflegedienste? Müssen sie Verträge kündigen? Und wer springt dann ein? Und was ist mit ungeimpften Angehörigen? Diese Fragen wurden bisher kaum diskutiert. Endgültige Klarheit über die Versorgungslücke dürfte erst dann herrschen, wenn die als ungeimpft gemeldeten Mitarbeiter ihre jeweiligen Verfahren bei den Gesundheitsämtern abgeschlossen haben.
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