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»Angst und Wut sind die vorherrschenden Gefühle«
Lokaljournalist Olexiy Ladyka über die verzweifelte Lage in Kramatorsk in der Ostukraine
Olexiy Ladyka, wo befinden Sie sich gerade? Sind Sie sicher?
Ich bin gerade in Kramatorsk und bin jetzt an einem sicheren Ort. Ich lebe eigentlich in der Region rund um den Militärflughafen, aber da ist es gerade zu gefährlich. Dort gibt es keine Schutzräume. Also habe ich entschieden, dass ich meine Familie an einen sicheren Ort bringen will. Wir sind jetzt weit weg vom Militärflughafen.
Wie ist die aktuelle Lage?
In Kramatorsk ist aktuell alles in Ordnung. Wir haben keine Bomben oder Gefechte wie in Charkiv oder Mariupol. Die Russen versuchen, uns per Raketen zu erreichen. Meine Frau und meine Tochter sind jetzt in Frankreich. Am Montag musste ich bei einer Stelle des Militärs erscheinen. Sie haben mir gesagt, ich muss mich darauf vorbereiten, eingezogen zu werden. Darum habe ich mir die Haare kurz geschnitten und habe einige Sachen gekauft: eine große Tasche, Metallgeschirr, Medizin, Taschenlampe etc. Jetzt warte ich auf ihren Befehl.
Wie geht die Bevölkerung in Kramatorsk mit der Situation um?
In den vergangenen Tagen sind wir vor allem damit beschäftigt gewesen, die Verteidigung unserer Stadt vorzubereiten. Wir haben Sammelaktionen gestartet, für Material für die Soldaten, aber auch Kleidung und Essen für die Bevölkerung und für Geflüchtete aus gefährlicheren Regionen. Das ist, was wir derzeit machen. Und ich hoffe, dass wir hier in Kramatorsk niemals russische Panzer und russische Truppen sehen werden. Aber falls doch, wir sind vorbereitet.
Wie geht es den Menschen in Kramatorsk?
Die meisten Menschen in Kramatorsk haben Angst, aber sie sind gleichzeitig auch wütend. Und diese Wut setzen sie wiederum in Taten um. Heute war ich bei einer Sammelaktion dabei, um unsere Soldaten zu unterstützen. Sie haben um Tee und Zucker gebeten und die Menschen haben es ihnen gebracht. Die Unterstützung durch die Bevölkerung war groß. Viele sind gekommen und haben den gewünschten Tee und Zucker gebracht, aber auch Süßigkeiten oder Kleidung. Die Menschen wollen unserer Armee helfen, unsere Stadt zu beschützen. So können sie ihre Wut in etwas Nützliches kanalisieren. Aber ich kann sicher sagen: Angst und Wut sind hier gerade die vorherrschenden Gefühle.
Gibt es genug Schutzräume, Krankenhäuser und Waffen, um den Menschen zu helfen und die Stadt zu verteidigen?
Ich glaube nicht, dass wir genug Schutzräume haben. In dem Stadtteil, wo ich wohne, gibt es zum Beispiel keinen einzigen Schutzraum. Es werden jetzt öffentliche Schulen, Kindergärten und andere Gebäude als Schutzräume genutzt. Ich denke, Krankenhäuser haben wir genug. Ob wir genug Waffen haben, kann ich nicht beurteilen, weil keine Zahlen öffentlich gemacht werden. Aber ich sehe viele Soldaten und Polizisten auf den Straßen und sie sind schwer bewaffnet. Deshalb glaube ich, dass unsere Stadt vorbereitet ist, wenn die Besatzer eintreffen.
Flüchten die Menschen oder haben sie entschieden, zu bleiben?
Fast jeden Tag gibt es Züge, um Menschen zu evakuieren. Ich war auf dem Bahnhof, als der erste Evakuierungszug abgefahren ist. Aber es waren gar nicht viele Leute da. Viele meiner Freunde und Verwandten haben Kramatorsk verlassen, aber der Großteil der Bevölkerung ist geblieben. Diejenigen, die mit dem Zug oder dem eigenen Auto geflüchtet sind, machen sich auf den Weg in die Westukraine. Manche wollen von dort weiter nach Polen.
Kramatorsk lebt seit 2014 mit der russischen Besatzung. Inwiefern hat sich die Situation in den letzten Tagen verändert?
Ich denke, dass die Situation jetzt ganz anders ist als 2014. Damals wussten wir gar nicht genau, wer der Feind ist. Das waren einfach ein paar komische Leute, die plötzlich aufgetaucht sind und die Kontrolle übernehmen wollten. »Wir haben jetzt hier das Sagen«, haben sie uns erklärt. »Wir sind die DNR« (Volksrepublik Donezk). Heute wissen wir, gegen wen wir kämpfen müssen. 2014 hat unser Polizeichef unsere Stadt einfach kampflos übergeben. Aber jetzt sind unsere örtlichen Polizeikräfte und Bürger sehr wütend. 2014 haben sie noch gesagt, dass sie sich wie Russen fühlen, aber jetzt stehen sie auf der Seite der Ukraine.
Arbeiten Sie noch als Journalist?
Am Anfang des Krieges habe ich noch versucht, als Journalist zu arbeiten. Aber dafür habe ich jetzt keine Zeit mehr, weil ich mithelfe, unsere Stadt zu verteidigen. Auch wenn ich keine Zeit habe, als Journalist zu arbeiten, so nutzen wir trotzdem unsere Social-Media-Kanäle, um Informationen zu teilen. So halten wir die Bevölkerung über Transportmittel, Schutzräume, die russischen Truppenbewegungen und andere wichtige Dinge auf dem Laufenden. Wir werden für unsere Freiheit, unsere Werte und unsere Identität kämpfen.
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