Es war schön

Eine Reisereportage der anderen Art: In »Lecko mio« erkundet Helge Timmerberg die Welt des Altwerdens

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.

Bevor Sie weiterlesen, machen Sie sich bitte locker! Rauchen Sie einen Joint, trinken Sie ein Bier oder betätigen Sie sich bis zur sexuellen Erschöpfung! Das brauchen Sie vor der Lektüre von »Lecko mio«. Denn dieses Buch fängt damit an, dass der demnächst 70-jährige Autor zehn Seiten lang seine Problemzonen Bauch und Po beschreibt. Im Detail. Und danach wird es nicht besser; im dritten Kapitel geht es um den beklagenswerten Zustand seiner Zähne. In Kapitel 11 beschäftigt er sich mit seiner Sehschwäche (»Nieder mit der Gleitsichtbrille«), ehe er sich in Kapitel 16 wieder den Zähnen widmet. O lecko mio!

Aber was will man von einem Werk erwarten, das den Untertitel »Siebzig werden« trägt. Die gute Nachricht: Es handelt sich um Helge Timmerberg, der sich über das Altwerden auslässt. Das ist jener Mensch, der über sich selber sagt: »Die Selbstsucht, die Gier, die Feigheit gehören zu mir wie der Mut, die Entsagung und die vielleicht zu hohe Empathiefähigkeit.«

Das mit der »Feigheit« ist natürlich Koketterie. Helge Timmerberg ist der mutigste Mensch der Welt, na ja, zumindest von Deutschland. Als 17-Jähriger trampte er nach Indien - über den Iran und Pakistan, die schon damals keine klassischen Tourismusländer waren. Später, als Reisejournalist, lernte er so ziemlich jeden Flecken der Erde kennen. Und darüber schrieb er dann. Doch es waren keine Land-und-Leute-Reportagen im Stil des »Geo«-Magazins. Keine Dia-Abende in Textform. Bei Timmerberg war jede Reise ein Trip ins Ich.

Dafür liebten wir ihn. Wir, die wir tatsächlich feige waren. Nie hätten wir uns getraut, nach Indien zu trampen oder jahrelang in Marrakesch und Havanna zu leben. Und schon gar nicht hätten wir all die verschiedenen Drogen ausprobiert. Aber Helge tat es. Stellvertretend für uns. Er öffnete die Türen zu Welten, in die wir uns nie hineingewagt hätten. Virtuelle und reale. Durch ihn lernten wir LSD, den Libanon, Kokain und Kalkutta kennen. Vor allem aber uns selbst. Wir lernten, dass Liebeskummer im Morgenland genauso schmerzhaft ist wie in Mitteleuropa. Und dass es keine Rolle spielt, ob man sich in Tirschenreuth oder Tokio einsam fühlt. So wurde Helge zu unserem Verbündeten.

Bei ihm verdichtete sich die große, weite Welt zur kleinen, ganz persönlichen. Zugegeben, ab und an beneideten wir ihn um sein Liebesleben. Wenn er von marokkanischen Frauen schwärmte, kamen uns die Kommilitoninnen aus dem Althochdeutsch-Oberseminar noch spröder vor als sonst. Doch auch hier hielt Helge das Gegengift bereit. Da er kein Macho ist, bringt er seit jeher die Dinge zur Sprache, die das stärker protzende Geschlecht normalerweise verschweigt: Erektionsverlust in Gegenwart der Traumfrau, Jammerlappentum nach Erhalt des Laufpasses sowie verpasste und verpatzte Chancen.

Auch in »Lecko mio« schont er sich nicht. Als Heldensaga haben seine Bücher noch nie getaugt. Eher als Anregung, wie man auf die Widrigkeiten des Lebens reagiert. Wenn man den ersten Schock verwunden hat, dass ein geschätzter Autor ein Buch damit beginnt, seine Wampe, seinen Hängearsch und seine kartoffelsackähnliche Haut zu beschreiben, staunt man, wie er mit diesen (und manch anderen) Alterserscheinungen umgeht. Nämlich gelassen. Tiefenentspannt. Selbstironisch.

Woran das liegt? In der Welt des Helge Timmerberg gibt es nichts Schlechtes. Weil selbst das Schlechte als Steinbruch für eine gute Story herhalten kann. Und davon gibt es in »Lecko mio« einige. Mag schon sein, dass kein Mensch einen Erlebnisbericht über eine Autofahrt bei Schneegestöber braucht. Doch wie Timmerberg diese zur hochdramatischen Rutschpartie gen Tod frisiert, das muss ihm erst mal einer nachmachen. Seine Geschichten und Betrachtungen haben jenen Kiffer-Flow, wie er typisch ist für den New Journalism, aber untypisch für den brettharten deutschen Journalistenschulen-Journalismus.

Die Story ist dabei niemals Selbstzweck. Immer dann, wenn man versucht ist, sein manisch-narzisstisches Erzählen als Anekdotenhuberei abzutun, kommt er mit einer Weisheit um die Ecke, die dem Erlebten einen Sinn gibt. Natürlich auf die Timmerberg’sche Art. Wo andere den Zeigefinger hochschnellen lassen, streut er im Plauderton »die Moral von der Geschicht« ein. Es ist diese Abgeklärtheit, die in der Daueraufgeregtheit unserer Zeit so angenehm auffällt.

Hier ist ein Mensch, der mit sich selbst im Reinen ist. In die »Früher war alles besser«-Falle tappt Timmerberg jedenfalls nicht. Für die Selbstbeweihräucherung einst rebellischer Senioren hat er nur ein »Bullshit der Alten« übrig. Denn jede Generation fängt wieder von vorn an: »Man müsste noch mal siebzehn sein, genauso bescheuert wie damals. Genauso monothematisch moralisch, genauso wild auf Revolution. Genauso im Alleinbesitz der Wahrheit, die da lautet: Jetzt sind wir dran. Wir sind die neue Generation und bestimmen durch die neuen Medien die neuen Regeln, und wenn ihr da nicht mitmacht, ist der Shitstorm euer Lohn. So einfach ist das. Und wäre ich heute noch mal siebzehn, würde ich da sicher mitmachen.«

So spricht ein alter weiser Mann, der weiß, dass er sein Leben gelebt hat. Und der sich über die Zukunft - nicht nur die eigene, sondern auch die der Menschheit - keine Illusionen macht, »weil es so wie in den letzten 300 000 Jahren wirklich nicht mehr weitergehen kann«. Was also tun, um eine bessere, friedlichere, gerechtere Welt zu schaffen? »Wir müssen einfach nur alle acht Milliarden Menschen davon überzeugen, ihr Ego abzulegen. Dann klappt das sofort. Und wenn ich alle sage, meine ich alle, auch mich. Auch ich muss mein Ego minimieren, und schon weiß ich, es wird kompliziert.«

Kein Wunder, dass den Autor nach 21 Übungen in sprachlicher Leichtigkeit dann doch im 22. und letzten Kapitel die Schwermut packt. Die Frage »Und wie wird das Wetter?« vermag selbst ein Helge Timmerberg in Zeiten der Klimaerwärmung nur mit Galgenhumor zu beantworten: »Züchten wir in unseren fabelhaften Genlaboren Kühe, die nicht mehr furzen. Und trotzdem glücklich sind.«

Da bleibt allenfalls die Hoffnung, dass - Perry Rhodan lässt grüßen - die Wesen einer fernen Galaxie unseren Planeten retten. Und die Erinnerung an Zeiten, in denen man solche Themen getrost Science-Fiction-Groschenheftchen überlassen konnte. »Ich habe sechzig Jahre gutes Wetter gehabt«, schreibt der 70-jährige Helge. »Es war schön.«

Helge Timmerberg: Lecko Mio. Siebzig werden. Piper, 192 S., geb., 20 €.

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