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Ich bin online, also bin ich

In Lauren Oylers »Fake Accounts« geht es um eine junge Frau, die sehr viele Stunden im Internet verbringt - so lange, dass sie nicht mehr weiß, wer sie eigentlich ist

  • Lena Fiedler
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor sieben Jahren schrieb die Filmemacherin und Autorin Hito Steyerl in einem Aufsatz, dass die Macht des Internets mächtiger sei als je zuvor. Es habe die Vorstellungskraft, die Aufmerksamkeit und die Produktivität von immer mehr Menschen nicht nur beflügelt, sondern völlig in Beschlag genommen. Wie es das macht? Es entwickele sich in eine neue Richtung, nämlich offline.

Ihr Text ist heute keine Prognose mehr, sondern Wirklichkeit geworden. Die digitale Sphäre hat unsere Gesellschaft vollständig durchdrungen und verändert sie in einem fort. Diese neue Wirklichkeit ist es, die Lauren Oyler in ihrem Debütroman »Fake Accounts« in Worte zu fassen sucht.

Sie erfindet eine namenlose Erzählerin in New York City, die sich am Vorabend der Amtseinführung von Donald Trump durch das Smartphone ihres Freundes klickt und so herausfindet, dass er - der wie jeder zweite Hipster behauptet hatte, schon lange keine sozialen Medien mehr zu benutzen - ein ziemlich bekannter Verschwörungstheoretiker ist. Das ist für sie ein Schock, nicht nur weil sie dachte, er würde politisch in etwa dieselben vagen linken Ansichten vertreten wie sie, sondern weil er es geschafft hat, neben ihr eine völlig andere Person zu sein, und sie nichts von diesem Doppelleben mitbekommen hat.

Noch bevor sie sich trennen kann (man erfährt nie, ob sie es wirklich getan hätte), kommt ihr Freund bei einem Fahrradunfall ums Leben. Nach einer Woche, die sie apathisch auf Twitter verbringt, kündigt sie ihren Job als Autorin bei einem mittelguten Online-Magazin und zieht planlos nach Berlin, in die Stadt, in der sie ihren toten (Ex)-Freund das erste Mal kennengelernt hat. Dort lernt sie kein Deutsch, aber fängt an zu daten - ihrerseits mit Fake-Accounts.

Neben vielen anderen Themen wie Künstlichkeit, Kunst und US-Amerikaner im Ausland geht es in »Fake Accounts« um die große Frage der Identität in Zeiten von Social Media. Gibt es noch einen Unterschied zwischen on- und offline, wenn, wie von Hito Steyerl vorhergesagt, das Digitale das reale Leben vollständig durchdrungen hat? Und was für einen Einfluss haben die vielen Online-Personas auf das Leben?

Die Erzählerin stellt sich diese Fragen nicht mehr, denn sie ist permanent online, sei es auf ihrem Twitter-Account (mit einer Follower-Zahl »im mittleren vierstelligen Bereich«) oder später in Berlin auf Dating-Seiten wie »OkCupid«, wo sie sich für jeden Abend eine neue falsche Persönlichkeit ausdenkt. Kein Moment, wo man sich als Leserin denkt: Ah, das ist jetzt also wirklich sie, jetzt ist sie authentisch. Das Authentische scheint eine Kategorie zu sein, die seit dem Digitalen keinen Wert mehr hat, obwohl immer mehr ihre Aura beschwören.

Am Ende denkt man sich fast, dass ihr (scheinbar) toter Freund und sie nicht so verschiedene Leben hatten. Sie lebten verschiedene Formen der Täuschung. Man könnte für sie (und wahrscheinlich für viele andere Digital Natives) die Formel aufstellen: Ich bin online, also bin ich.

Endlich also ein Roman, dem es gelingt, die subtilen Veränderungen in Beziehungen zu benennen, die durch die sogenannten sozialen Medien wie Instagram oder Dating-Apps wie »OkCupid« ausgelöst werden? Immerhin bemerkt man, dass die 30-jährige Oyler tatsächlich mehrere Generationen Social Media durchlebt hat und sich nicht, wie viele andere, für einen Text das erste Mal auf Tiktok rumtreibt. Und ihre Beobachtungen sind witzig, denn die Erzählerin drückt sich nicht davor, über ihr eigenes oder fremde Leben zu urteilen.

Besonders gut sind die Beschreibungen ihrer Dates in schlechten Berliner Bars der Weserstraße, wo sie zum Beispiel einen französischen Projektmanager trifft: »Geschäftsmäßig, in einem knackig frischen Hemd, für das ich mir extra Friedas Bügeleisen ausgeliehen hatte, fragte ich ihn über das Projektmanagement aus, als wüsste ich nicht, dass es kompletter Bullshit war.«

Oder ihre Wahrnehmung Berlins, die so, nur einer Fremden möglich ist: »Das Licht tauchte alles in einen unheimlichen Schieferton, egal zu welcher Tageszeit, als hätte es immer gerade geregnet oder als hätte man immer gerade geweint.«

Um zu den wirklich interessanten Beobachtungen vorzudringen, muss man als Leserin schon langen Atem beweisen und sich durch viele Seiten apathischer Selbstbetrachtung der Erzählerin quälen. Die thematische Auseinandersetzung und Kritik ist Oyler besser gelungen als die literarische Handlung. Das ist nicht überraschend, denn Oyler wurde als (vernichtende) Literaturkritikerin bekannt und nicht als Literatin. Sie vermisst beispielsweise den sehr erfolgreichen Essayband »Trick Mirror« ihrer gleichaltrigen Kollegin Jia Tolentino, die autofiktional ähnliche Themen in den Blick nahm wie Oyler. Sie identifiziert Mechanismen des Digitalen, die problematisch sind, zum Beispiel die Verkürzung von Standpunkten auf ihr Erregungspotenzial - so weit, so kulturkritisch.

Es wäre aber auch erfrischend gewesen, eine Kulturkritik zu lesen, in der es den Figuren gelingt, einen Weg aus dem Spiegelkabinett der sozialen Medien zu finden - sollte es denn einen geben.

Lauren Oyler: Fake Accounts. A. d. amerik. Engl. v. Bettina Abarbanell. Piper, 368 S., geb., 24 €.

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