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- »Ein Volksfeind«
Erhebung der Bürgerkinder
Am Sonnabend kam am Staatsschauspiel Dresden Henrik Ibsens »Ein Volksfeind« zur Premiere
Was für ein Stück Literatur wollte der norwegische Schriftsteller mit seinem 1882 veröffentlichten »Ein Volksfeind« eigentlich schreiben? Einen dramatischen Brüderkonflikt zum einen, eine frühe Kritik aufgeklärter bürgerlicher Demokratien zum anderen. Eines, das einen anderen Wissenschaftsbegriff zu etablieren versuchte, vielleicht. Vor allem aber - ein Angriff auf die öffentliche Meinung.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Die Handlung ist schnell erzählt: Dr. Tomas Stockmann ist ein angesehener Mann, er verdingt sich als Badearzt in seiner südnorwegischen Heimatstadt und will gemeinsame Sache machen mit den Journalisten vom »Volksboten«, um eine Öffentlichkeit für seine Entdeckung zu schaffen: Das Wasser in dem Kurort ist vergiftet. Es liegt auf der Hand, dass Stockmann in Konflikt mit seinem Bruder geraten muss, der als Bürgermeister der Stadt sein Vorgesetzter ist. Findet der Mediziner anfangs noch viele Unterstützer, ändert sich die Stimmung schnell, als klar wird, dass die Entscheidung über die Veröffentlichung oder Nichtveröffentlichung vor allem auch eine ökonomische Frage ist. Und so nimmt ein Drama seinen Lauf, in dem alle Figuren mit ihren Widersprüchen ringen müssen, in dem Wahrheits- und Freiheitsbegriffe miteinander konkurrieren, in dem alle loyal sein wollen, aber alle etwas anderes damit meinen.
Das Vokabular des Stücks kommt einem merkwürdig vertraut vor: Vom Volk und von Feinden des Volkes ist immerfort die Rede, vom Verlust der Freiheit oder von der Bedeutung der wirklich wahren Wahrheit. Manchmal spricht sogar jemand von Revolution. Und so scheint es naheliegend, Ibsens »Ein Volksfeind« in Dresden auf die Bühne zu bringen, jener Stadt also, in der Pegida-Demonstranten seit 2014 mit ganz ähnlichen Formulierungen hantieren und wo die sogenannten Querdenker in der Bevölkerung auch heute stark vertreten sind und es jenen gleichtun.
Aber Laura Linnenbaums knapp zweieinhalbstündige, klug gekürzte Inszenierung, die am vergangenen Sonnabend Premiere hatte, ist keine platte Aktualisierung oder Zuschneidung auf jüngste Ereignisse. Beidem wäre bei der Stoffvorlage wohl auch kaum Glück beschieden gewiesen. Auch der Corona-Fährte, die allein schon durch die zentrale Gesundheitsthematik in dem Stück und die Frage nach dem politisch-verwalterischen Umgang damit beim Zuschauer assoziativ mitschwingt, folgt sie nicht durch plakative Verweise.
Vier Mitglieder des Blasorchesters Elbflorenz eröffnen vor dem Vorhang stehend diesen Theaterabend. Und schon damit verrückt die Inszenierung den Fokus von dem auszumachenden Volksfeind auf ein ominöses Volk, von dem niemand weiß, was es eigentlich ist. Gibt doch jemand eine klare Antwort darauf, ist umso mehr Vorsicht geboten. Mit Volkstümlichkeit und kleinbürgerlichem Idyll also geht es los.
Auf dem strahlend weißen Halbrund der Bühne (Bettina Meyer) befindet sich sich ein begehbarer Kastenbau, der mittels Treppen von den Spielern auch bestiegen wird. Als der Vorhang sich öffnet, geht die Tür der Konstruktion auf, und nacheinander treten die Zeitungsmacher Hovstad (David Kosel) und Billing (Philipp Grimm) splitternackt hervor. Sie haben sauniert. Als Dr. Stockmann (Viktor Tremmel) sich zu den beiden vermeintlichen Freigeistern begeben will, wird er von seinem Bruder Peter (Raiko Küster) aufgehalten. Ob sich hier um eine Orgie handele, will der wissen. Vergnügungen spielen in dem florierenden Kurort keine geringe Rolle, solange die Ordnung noch unter Kontrolle ist. Weit über dem Bühnengeschehen sind in monumentalen goldenen Lettern die Worte zu lesen: »Mut zur Wahrheit«. Eine idealistische, sicher schöne Losung, die in ihrer unleugbaren Dauerpräsenz etwas Bedrohliches ausstrahlt.
Die Schauspieler sind allesamt zeitlos bieder gekleidet (Kostüme: David Gonter), und gerade das entspricht auch dem Zugriff der Regisseurin. Linnenbaum lässt all die Figuren als das erscheinen, was sie sind: Kleinbürger. Ob sie nun Revolution schreien oder zur Aufrechterhaltung der Ordnung aufrufen. Offensichtlich ist das bei dem Drucker Aslaksen, den Hans-Werner Leupelt gibt. Der versteht sich als »einfacher Mensch«, als »kleiner Mann«, daran ändert auch seine Funktion als Vorsitzender des Vereins der Hausbesitzer nichts. Die vorgeblich progressiven Köpfe wollen vielleicht an ein paar Stühlen rütteln, aber sicher keine Veränderungen darüber hinaus. Erst recht nicht, wenn sie den Wohlstand der Stadt gefährden könnten.
Die entscheidende Leistung der Regie ist auch darin zu sehen, dass Dr. Stockmann hier nicht heroisch überhöht wird. Ihm ist die Wahrheit heilig, die er in der Wissenschaft sucht und findet, aber die Verhältnisse durchschaut er nicht. Naiv glaubt er, er müsse nur aussprechen, was ist, und alles würde gut. Als er das Gegenteil erleben muss, verbeißt er sich in elitärem Überlegenheitsdünkel. Dieses ambivalente Auftreten spielt Tremmel bravourös.
Als sich das Blatt noch einmal zu wenden scheint, der Schwiegervater des Arztes (Sven Hönig) mit all seinem Geld die im Wert rapide gesunkenen Aktien der Badeanstalt aufkauft und dem arbeitslos gewordenen Stockmann ein Ausweg aus dem Ruin eröffnet wird, bleibt der standhaft. Ist das der Mut zur Wahrheit? Und was nützt der, wenn die öffentliche Meinung anderen Rufen folgt? Überzeugung und Trotz, Opportunismus und Wut erscheinen wie ein blindes Spiel in einer Ordnung, die nach gänzlich anderen Kriterien eingerichtet sind.
Ein anderer weltberühmter Dramatiker, mit Namen Bertolt Brecht, hat in einem seiner Dramen über Kleinbürger und Kriminelle diese Essenz zum Ohrwurm gemacht: »Wer wollt auf Erden nicht ein Paradies? / Doch die Verhältnisse, gestatten sie’s?«
Nächste Vorstellungen: 1., 7. und 17. April
www.staatsschauspiel-dresden.de
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