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Queeres Berlin auf sich selbst gestellt
Für sexuelle Minderheiten unter den Kriegsgeflüchteten mangelt es in der Hauptstadt an öffentlicher Unterstützung
Die Erfahrungen, die Konstantin Sherstyuk in den letzten Wochen gemacht hat, könnten wahrlich besser sein. Für den Verein WostoQ-Regenbogen, der sich für sexuelle Minderheiten aus dem postsowjetischen Raum einsetzt, berät der 34-Jährige queere Menschen, die wegen des Kriegs in der Ukraine in Berlin Schutz suchen müssen. Dabei gehe es nicht nur um Ukrainer*innen, sondern auch um Russ*innen. »Die kriegerische Stimmung im Land nimmt zu und selbst ernannte Patrioten hetzen gegen Minderheiten«, sagt Sherstyuk. Zuletzt polemisierte einmal mehr das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, gegen Homosexuelle und Gay-Pride-Paraden, um den Angriff auf die Ukraine zu legitimieren. Für immer mehr queere Russ*innen scheint jetzt der Zeitpunkt gekommen, das Land zu verlassen. Viele von ihnen fliehen nach Berlin.
Doch in der Hauptstadt lässt die Unterstützung besonders vulnerabler Gruppen unter den Geflüchteten aus der Ukraine oder Russland noch zu wünschen übrig. Wie die queerpolitische Sprecherin der Berliner Linken, Claudia Engelmann, gegenüber »nd« erklärt, gibt es momentan keine offiziellen Unterkünfte für sexuelle Minderheiten unter den Geflüchteten. Sie sagt: »Was es jetzt ganz schnell und dringend braucht, ist eine Unterkunft für queere Menschen mit etwa 100 bis 120 Plätzen.« In einer Notsitzung am Freitagabend habe sie mit Helfer*innen von russischsprachigen Organisationen gesprochen. Das Ehrenamt gehe »auf dem Zahnfleisch«, so Engelmann.
Nach Ausbruch des Krieges hatten queere Organisationen wie der WostoQ-Regenbogen in Windeseile auf die neue Situation reagiert. Sachspenden sind gesammelt und in die Ukraine gebracht, Informationen zu Unterkunftmöglichkeiten zusammengetragen und wichtige Medikamente, wie etwa Hormone, aufgetrieben worden. Gegründet wurde auch das Bündnis Queere Nothilfe, das sich der Versorgung und Evakuierung sexueller Minderheiten in der Ukraine widmet. Gerade Transpersonen, die laut ihren Pässen noch als Männer gelten, leiden unter der Situation und müssen damit rechnen, in den Krieg hineingezogen zu werden.
Bei ihrer Arbeit in Berlin können die Helfer*innen nicht immer mit Verständnis rechnen, wie Konstantin Sherstyuk berichtet: »Vor einer Woche habe ich erlebt, wie ein queeres Pärchen aus Russland, das ich begleitet habe, am Ankunftszentrum diskriminiert wurde.« Ziel sei es gewesen, das Paar vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) in einer Einrichtung für queere Menschen unterbringen zu lassen. »Die Schlange war lang und als es hieß, dass für heute Schluss mit der Registrierung sei, bin ich auf eine Mitarbeiterin vom Landesamt zugegangen, um mich für das Pärchen einzusetzen«, erzählt Sherstyuk. Daraufhin sei ihm genervt mitgeteilt worden, dass sich die beiden wohl oder übel in eine allgemeine Unterkunft begeben müssten. Und: »Wenn sie da nicht rumvögeln, wird es auch keine Probleme geben.«
Um das ehrenamtliche Engagement zu unterstützen, fordert Claudia Engelmann eine öffentliche Koordinierung, mit der die Freiwilligen in ihrer Arbeit unterstützt werden sollen: »An allen großen Stationen in Berlin muss es Träger*innen geben, die queere Menschen verteilen und Zugänge zu den jeweiligen Communitys schaffen.«
Bisher gebe es für sexuelle Minderheiten mit dem Informationszentrum am Hauptbahnhof lediglich einen Anlaufpunkt. Für die Finanzierung sollte laut der Linke-Politikerin nicht nur das Land, sondern auch der Bund Gelder bereitstellen. »Im Grunde ist Berlin ja der Hauptankunftsort für ganz Deutschland«, sagt sie.
Svetlana Shaytanova von Quarteera, dem größten russischsprachigen Verein für queere Menschen in Berlin, zeigt sich gegenüber »nd« zufrieden, aber erschöpft. »Wir schaffen es bis jetzt«, sagt die 30-Jährige, »doch wir müssen den Druck auf die Stadt noch deutlich erhöhen.« Um anderen gut helfen zu können, sei es ebenso nötig, auf sich selbst aufzupassen. Immer wieder würden sich Helfer*innen bei Quarteera untereinander austauschen oder die gemeinsame Arbeit bei Gruppentreffen reflektieren. Für Streit zwischen queeren Russ*innen und Ukrainer*innen gibt es laut Shaytanova keinen Platz: »Gerade ist einfach das wichtigste, zu helfen.« Als Russin fühle sie aber, wie auch viele ihrer Freund*innen, »Scham, Wut und Schmerz« über den von Putin angezettelten Krieg. Die Arbeit biete Gelegenheit zur Ablenkung.
»In Russland gibt es auch queere Menschen, die behaupten, dass es eigentlich keine Probleme gibt und sich die Aktivist*innen das Leben nur selbst schwer machen«, sagt Konstantin Sherstyuk. Haltungen wie diese seien in den queeren Berliner Communitys allerdings die Ausnahme. »Gleichzeitig wissen die Aktivist*innen aus anderen osteuropäischen Ländern, dass die Russ*innen nichts dafür können, wenn ihr Land Krieg in der Ukraine führt.«
Probleme sieht Sherstyuk, selbst Sohn einer ukrainischen Mutter und eines russischen Vaters, eher in den Familien queerer Menschen: »Ich höre häufiger von Freund*innen, dass sie mittlerweile aufgehört haben, mit ihren Familien zu sprechen.« Auch er habe Verwandte, die Putin und den Krieg in der Ukraine unterstützen. Den Kontakt zu ihnen hat er nicht abgebrochen, aber doch auf das mindeste reduziert. »Sie finden, dass die Ukraine und Belarus zu Russland gehören und dass die Nato an allem schuld ist«, sagt er. Diskussionen darüber könne er aber gerade nicht führen: »Ich habe dafür einfach keine Kapazitäten.«
Auch die Berliner Organisation LGBT Life spricht auf »nd«-Anfrage von Geschlossenheit: »Alle queeren Gemeinden in Deutschland und der Welt verurteilen diesen Krieg.« In der Ukraine stürben nicht nur Heterosexuelle, sondern eben auch Homosexuelle und transsexuelle Menschen, »unsere Brüder und Schwestern«.
Zudem berichtet LGBT Life von mehr homophoben Nachrichten und Angriffen seit dem Kriegsbeginn. Die Russophobie in Deutschland habe zugenommen: »Auch die Queergemeinde leidet darunter.« Viele seien verunsichert, wüssten nicht länger, was sie auf die Frage »Woher kommst du?« antworten sollen.
Der WostoQ-Regenbogen und Quarteera konnten sich diesem Eindruck hingegen nicht anschließen. Man habe in letzter Zeit genauso viele russophobe Angriffe und Beleidigungen wahrgenommen wie auch sonst. »Wir wollen diesen Diskurs nicht mehr Aufmerksamkeit schenken, als er verdient«, sagt Svetlana Shaytanova. Quarteera wolle weder unsensibel gegenüber den Ukrainer*innen sein, noch Wladimir Putins Erzählweise aufgreifen, dass Russ*innen überall auf der Welt angefeindet würden. »Der Kampf gegen Antislawismus bleibt, ganz generell, eine gemeinsame Aufgabe.«
Spenden für das Aktionsbündnis Queere Nothilfe sind jederzeit willkommen ebenso wie Unterstützung für Quarteera und LGBT Life. Zu einer Petition zum Schutz für queere Menschen aus der Ukraine geht es hier entlang.Das »nd« bleibt gefährdet
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