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Die gnadenlos allwissende Erzählerin
Wovon handeln die Geschichten von Ljudmila Ulitzkaja in »Alissa kauft ihren Tod«? Vom Leben, was sonst!
Die 79-jährige Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja zählt zu den wichtigsten intellektuellen Stimmen Russlands. Sie hat sich klar gegen den russischen Angriff auf die Ukraine positioniert und auch zuvor immer wieder Kritik an Putin geäußert. In ihren Romanen und Erzählungen kommt die Politik allerdings nur am Rande vor.
Ulitzkajas Figuren sind zwar durchaus von den politischen Umständen betroffen, zum Beispiel von der staatlich befeuerten Homophobie im heutigen Russland oder von den Reisebeschränkungen zu Zeiten der Sowjetunion. Aber die Beziehungen der Menschen untereinander, ihre Hoffnungen und Ängste, ihre Freuden und Enttäuschungen sind es, die im Vordergrund stehen. Dadurch ermöglicht die Autorin faszinierende Einblicke in die Alltagswelt greifbarer, liebenswerter Figuren.
So auch in den Geschichten im Band »Alissa kauft ihren Tod«, der gerade erschienen ist. Er vereint mehrere Erzählungszyklen, die zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegen, darunter eine Sammlung von Miniaturen, die im russischen Original noch unveröffentlicht sind. Ins Deutsche übertragen hat die Erzählungen Ganna-Maria Braungardt. Wenn man auf den Punkt bringen müsste, wovon diese Geschichten handeln, könnte man ohne Übertreibung sagen: vom Leben.
Ulitzkaja erzählt von Menschen, vor allem von Frauen, die ihren Weg durchs Leben suchen. Es gibt solche, die versuchen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und solche, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht. Ob sie es mit den kleinen Problemen des Alltags oder mit dramatischen Schicksalsschlägen zu tun haben - Ulitzkaja als gnadenlos allwissende Erzählerin hat sie immer im Blick und erlaubt sich das ein oder andere Augenzwinkern. Die treffenden, humorvollen Zuspitzungen und die elegant unterhaltsamen Schilderungen lassen einen fast vergessen, dass viele der Geschichten von Krankheit und Tod handeln. Düster wird es dabei nie, denn Ulitzkaja schafft es, auch diese Themen mit einer natürlichen Leichtigkeit einzufangen, sie gehören schließlich auch zum Leben.
In der ersten Erzählung - »Drache und Phönix« - geht es um Mussja, die im Krankenhaus am Bett ihrer todkranken Frau Sarifa sitzt und aus Verzweiflung eine armenische Hexe anruft, die gegen Geld einen Seelentausch verspricht. Ulitzkaja schildert einen bewegenden Moment des Abschieds und entwirft dabei eine ungewöhnliche Perspektive, die zeigt, dass Queerness und Tradition keine Gegensätze sein müssen.
Wunderbar optimistisch ist die titelgebende Erzählung »Alissa kauft ihren Tod«. Alissa genießt ihre Rente bei bester Gesundheit, will aber vorbereitet sein auf die unschönen Seiten des Alters. Für den Fall, dass sie bettlägerig wird, will sie sich Gift besorgen, mit dem sie den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmen kann. Doch der Arzt, den Alissa um das Mittel bittet, erweist sich in ganz anderer Hinsicht als interessant. Nach einer stürmischen Romanze heiraten die beiden, und Selbstmord ist vorerst kein Thema mehr. Ulitzkaja belässt es nicht bei diesem Happy End. Es folgen noch mehrere Wendungen, die man nicht voraussieht, weil Ulitzkaja sich nicht an die übliche Erzähldramaturgie hält. Für ihre Figuren - und die Leser*innen - gibt es immer einige Überraschungen, was ihre Geschichten erfrischend lebensnah macht.
Die Erzählung »Russische Frauen« hat es zwar etwas zu gut gemeint mit den unerwarteten Wendungen des Schicksals, aber sie ist eine gleichzeitig unterhaltsame und erschütternde Abrechnung mit dem Patriarchat in Form gewalttätiger Ehemänner. Margo zum Beispiel erinnert sich voller Ekel an die »schändlichen Vereinigungen« mit ihrem Mann, »bei denen sie hasserfüllt dalag und neunzig Kilo Lebendgewicht auf ihr herumzuckten, sie trocken aufrissen, ein Gefühl, als würde sie gepfählt, und anschließend war die ganze Brust voller blauer Flecke, als wäre sie geschlagen worden«.
Der Topos des rücksichtslosen, brutalen Ehemannes, der seine Frau schlägt und mit den Kindern sitzen lässt, spielt immer wieder eine Rolle, aber Ulitzkaja versteht es auch, das Klischee geschickt zu brechen. So etwa in der Erzählung »Die Ausländerin«, in der Liljas Ehemann Salih kurz vor der Geburt der gemeinsamen Tochter zur Beerdigung seines Vaters nach Bagdad aufbricht - und nicht zurückkehrt. Alle sind davon überzeugt, dass er sich aus dem Staub gemacht hat, und Liljas Mutter schäumt vor Wut über ihre Tochter, »die dumme Pute, die ihren Mann nicht hatte halten können«, während der Kurde Salih in einem irakischen Gefängnis darauf hofft, bald zu seiner Familie zurückkehren zu können.
Manchmal lässt Ulitzkaja in die realistisch erzählten Geschichten etwas Übernatürliches einfließen, mythische Figuren und wandernde Seelen. Das geschieht so elegant und unaufdringlich, dass man gar nicht wirklich dazu kommt, sich zu wundern, sondern es einfach hinnimmt, sich plötzlich in einem modernen Märchen zu befinden.
Zwar nicht mystisch, aber nicht minder existenziell sind die kurzen Texte im letzten Teil des Bandes: »Sechs mal sieben Miniaturen«. Von »Sieben Weltuntergänge« bis zu »Sieben Ehepaare« beschreibt Ulitzkaja hier auf lediglich ein bis zwei Seiten ganze Schicksale und Zeitbilder. Diese beeindruckenden Texte zeigen Ulitzkajas großes Talent zur Zuspitzung und genauen Beobachtung.
Mal erschütternd, mal humorvoll - die Erzählungen im Band »Alissa kauft ihren Tod« sind berührend und in ihrer Leichtigkeit nie banal. Sie überraschen einen immer wieder damit, dass alles doch nicht so schlimm ist, wie man dachte. Einen solchen Optimismus, der mit Einverstandensein nichts zu tun hat, findet man selten in der russischen Literatur.
Ljudmila Ulitzkaja: Alissa kauft ihren Tod. A. d. Russ. v. Ganna-Maria Braungardt. Hanser, 304 S., geb., 25 €.
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