Wie politisch ist Begehren?

Ungleichheit und Verlangen: In »Das Recht auf Sex« diskutiert die Philosophin Amia Srinivasan Sexualität im Gefüge von Race, Klasse und Machthierarchien

  • Isabella A. Caldart
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Frage, wo einvernehmlicher Sex aufhört und wo Nötigung beginnt, lässt sich nicht immer eindeutig beantworten. Wie wahr dieser Satz ist, zeigt Amia Srinivasan in ihrem Buch mit dem Titel »Das Recht auf Sex«.

Die Philosophin, die an der University of Oxford lehrt, beleuchtet in sechs Essays das Thema Sexualität mit Fokus auf die Gesellschaften in Indien, den USA und Großbritannien. Es geht ihr vor allem um Machtgefälle, auch jene, die sich nicht auf den ersten Blick offenbaren, und den Einfluss äußerer Aspekte wie Race und Klasse auf die vermeintlich »persönliche« Präferenz, wen wir begehrenswert finden. Eindeutig ist: Unsere Entscheidungen sind weniger frei, als wir glauben.

Die entscheidende Frage ist hier nicht, ob es ein Recht auf Sex gibt, wie der fast provokante Titel suggerieren könnte, sondern vielmehr, wie politisch Sex ist. Laut Srinivasan kann Sex nicht privat sein, weil Sehnsüchte gesellschaftlich geformt sind. Als Woman of Color untersucht sie vor allem die Rolle, die Race in Hinblick auf Sexualität spielt. Denn nicht nur unser Begehren ist dadurch gelenkt, so die Philosophin, auch in anderer Hinsicht wird es kompliziert. Im ersten Essay »Die Verschwörung gegen Männer« zerlegt sie gekonnt die Haltung, dass Vergewaltigungsvorwürfe gegen Männer fast nie angezweifelt werden sollten. Neben dem weithin bekannten Umstand, dass Frauen aus diesen Anzeigen für gewöhnlich keine Vorteile ziehen - im Gegenteil -, dass überhaupt die wenigsten Vergewaltigungen angezeigt und die Männer, die angezeigt, selten verurteilt werden, macht Srinivasan auf einen überraschenderen Fakt aufmerksam: Wenn sich Anschuldigungen später als falsch erweisen, stammen sie überwiegend von Männern - und zwar von der weißen Polizei oder Staatsanwaltschaft gegen nichtweiße Männer.

Danach kommt die Autorin zu einer weiteren Komponente, in der Race eine Rolle spielt. Genauer zu einem Claim des Mainstream-Feminismus, sprich des durch weiße Frauen geprägten Feminismus: »Believe women« - glaubt Frauen -, wenn es um sexualisierte Gewalt geht. Das mag für die meisten erst mal nach einer logischen Prämisse klingen. Doch so einfach ist es nicht, denn wer automatisch Frauen glaubt, übersieht die Geschichte vor allem US-Amerikas mit den vielen Fällen, in denen Schwarze Jungen und Männer aus rassistischen Gründen von Weißen der Vergewaltigung bezichtigt wurden. Das bekannteste Beispiel ist wohl Emmett Till, ein 14-jähriger Junge, der im Jahr 1955 von weißen Männern gelyncht wurde; erst in diesem Jahrtausend gab das mutmaßliche Opfer Carolyn Bryant zu, gelogen zu haben.

Für Srinivasan wirft deshalb die Forderung, immer den Frauen zu glauben, mehr Fragen auf, als man denkt: »Wem sollen wir glauben - der weißen Frau, die sagt, sie sei vergewaltigt worden, oder der Woman of Color, die darauf beharrt, ihrem Sohn werde etwas angehängt? Carolyn Bryant oder Mamie Till?«

Auch in ihren anderen Essays hält Amia Srinivasan die vielen Ambivalenzen fest, die unsere Sexualität prägen. Vermeintlich einvernehmliche Beziehungen in Bereichen, in denen es Hierarchien gibt (sie wählt als Beispiel Dozent*innen und Studierende), seien ebenfalls geprägt vom Patriarchat und entsprechend eben nicht so konsensuell, wie manche gern glauben würden. Sie beleuchtet dabei immer mehrere Seiten, die sie kommentiert, um teilweise Lösungsansätze zu liefern. Das gilt auch für die Themen Pornografie und Prostitution.

Der Titel dieser Essaysammlung leitet sich aus einem Text ab, den sie vor vier Jahren - damals noch als Frage formuliert (»Does anyone have the right to sex?«) - in Reaktion auf einen mordenden Incel namens Elliot Rodger verfasst hatte. Incel ist ein Akronym für »Involuntary Celibate« (unfreiwillig zölibatär Lebender), eine misogyne Subkultur heterosexueller Männer, die unfreiwillig auf Sex beziehungsweise romantische Beziehungen verzichten müssen, obwohl sie der Meinung sind, sie hätten das Recht auf Sex. Rodger hatte 2014 in Kalifornien sechs Menschen ermordet und 14 weitere verletzt, bevor er sich selbst mit einem Schuss in den Kopf tötete.

»Das Recht auf Sex« ist kein philosophisch-abstraktes Werk. Amia Srinivasan diskutiert ihre Themen anhand konkreter Beispiele und gelebter Erfahrung und animiert so ihre Leser*innen, ihr sexuelles Begehren zu reflektieren. Die Übersetzung ins Deutsche von Claudia Arlinghaus und Anne Emmert ist solide geraten. Bei der Schreibweise von »schwarz« halten sie sich an die Vorlage; auch Srinivasan benutzt einen Kleinbuchstaben (anders als viele Aktivist*innen, die »Schwarz« als politischen Begriff mit großem S schreiben, um ihn von der Farbe »schwarz« abzugrenzen). Gegendert wird hier mit dem Doppelpunkt statt dem Sternchen; eine Schreibweise, die in queer-feministischen Kreisen teilweise kritisiert, in vielen Medien aber üblich ist.

Bei einem Thema allerdings gibt es Schnitzer: So haben sich die Übersetzerinnen dafür entschieden, trans Frauen durchgehend als »Transfrauen« zu bezeichnen und dadurch einen Unterschied zu cis Frauen aufgemacht, statt »trans« als Adjektiv zu begreifen (wie »jung«, »groß« oder »blond«); außerdem wird mehrfach das Wort »Transsexualität« verwendet, das veraltet ist, weil es Identität und Sexualität verwechselt.

Die Autorin selbst moralisiert nicht, hält sich mit ihrer Kritik an jenen Lösungen, die der Mainstream-Feminismus als valide erachtet hat, aber auch nicht zurück. Ein lesenswertes Buch, das das Zeug dazu hat, den eigenen Wertekompass zu verrücken.

Amia Srinivasan: Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert. A. d. Engl. v. Claudia Arlinghaus u. Anne Emmert. Klett-Cotta, 320 S., geb., 24 €.

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