Ein Sinnbild für Toleranz

Volker Reinhardt ehrt Voltaire als einen Abenteurer der Freiheit

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Böhmermann ist ein Waisenknabe gegen ihn! Was hätte Karlsruhe wohl zu Voltaires Auslegung der Meinungsfreiheit bis weit über die Grenzen zur Schmähkritik hinaus gesagt? Nun ja: Andere Zeiten, andere Sitten! Das führt Volker Reinhardt, Geschichtsprofessor im Schweizer Fribourg, in seiner bewundernswerten Biografie über Voltaire materialreich aus.

Der Autor erweckt den Eindruck, als habe er alles von Voltaire gelesen. Kaum möglich, wenn man bedenkt, dass allein die »Correspondances« in der Bibliothèque de la Pléiade 15 284 Briefe umfasst. Wenn man die zahllosen Theaterstücke, philosophischen Novellen und historischen Texte hinzuzählt, steht man vor einem unglaublichen Werk, das der 1694 in Paris geborene Voltaire bis zu seinem Tode 1778 geschaffen hat. Reinhardt zitiert aus vielen Texten, die er selbst übersetzt hat. Eine Herkulesarbeit!

Die Biografie führt durch das aufregende, kämpferische und »das Abenteuer der Freiheit« (so der Untertitel) beispiellos erfüllende Leben Voltaires, der es mit allen aufnahm, sich mit fast allen anlegte, dabei zu Reichtum gelangte und bis heute als Sinnbild für Toleranz gehandelt wird. Die Demonstranten nach dem mörderischen Anschlag religiöser Fanatiker auf »Charlie Hebdo« hielten seinen Namen als ewig gültige Antwort auf das Verbrechen hoch.

Der Biograf erzählt elegant und chronologisch von einem Leben, das mit einer Rebellion gegen den Vater begann, sehr bald in die Bastille führte, nach England ins Exil und - immer der Verfolgung durch die französischen Behörden und die seinerzeit allmächtige katholische Kirche gewiss - häufig haarscharf an erneuter Verhaftung vorbei. Diese Verfolgung hatte er sich in seinem lebenslangen Kampf gegen Unfreiheit und gegen die Religionen mit seinen Schriften und Pamphleten redlich erarbeitet. Er war der Aufklärer schlechthin, der drei »Verräter« an der Vernunft ausgemacht hatte: Moses, Jesus und Mohamed.

Das französische Königreich hielt er für hoffnungslos veraltet, dessen Regierung und Verwaltung für korrupt. Reinhardt beschreibt ausführlich drei Justizmorde, die die französische Justiz aus religiöser Parteilichkeit gefällt hatte, sowie Voltaires langen Kampf um die Rehabilitation der Opfer und Revision der Urteile - wie eine Vorwegnahme des »J’accuse!« von Émile Zola in der Dreyfus-Affäre. Sprachlich ging Voltaire immer in die Vollen. Sein geschliffener Stil floss aus spitzer Feder.

Die Höhepunkte im Leben Voltaires sind detailreich und kurzweilig beschrieben: die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit der genialen Physikerin Marquise du Châtelet, die ihn in die Lehren des Briten Isaak Newton einführte; die hierzulande wohl bekannteste Episode am preußischen Hof bei Friedrich II., den manche »den Großen« nennen, und schließlich das späte Leben in Genf und als Patriarch von Ferney, einem Dorf an der östlichen Grenze Frankreichs, nahe Genf.

Reinhardt sieht seinen Protagonisten nicht unkritisch, letztlich aber enthusiastisch: Seine frühen Briefe aus England, »Das Zeitalter Ludwigs XIV.« als Beginn einer neuen Geschichtsschreibung, das Lehrgedicht über »Das Erdbeben von Lissabon«, das ganz eigene Genre der philosophischen Novelle, »Candide«, sein sogenanntes Taschenbuch »Dictionnaire philosophique portatif« sowie seine Weltgeschichte »Essai sur les mœurs«. Adressaten seiner oft alle Grenzen überschreitenden ironischen und freiheitlichen Kampfschriften waren neben den französischen Gegnern bei Hof, in der Regierung und unter den Religionsdienern vor allem seine Konkurrenten um die Meinungsführerschaft: sein Genfer Kollege Jean-Jacques Rousseau, der Verfasser des Werkes »Vom Geist der Gesetze«, Charles-Louis de Montesquieu, und der Erfinder des von Voltaire - absichtlich? - fehlgedeuteten Gedankens der »besten aller möglichen Welten«, der Deutsche Gottfried Wilhelm Leibniz.

Volker Reinhardts Biografie ist ein hohes Lied der Vernunft und der Freiheit. Und ermuntert, mal wieder Voltaire zu lesen.

Volker Reinhardt: Voltaire. Die Abenteuer der Freiheit. C. H. Beck, 607 S., geb., 32 €.

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