Die Mär von der Zeitenwende

In der Außenpolitik setzt Deutschland schon seit Jahren auf das Militär. Nun werden die Möglichkeiten erweitert

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 5 Min.

In diesen Tagen wird in zahlreichen Medien der Begriff »Zeitenwende« benutzt, wenn es um die deutsche Außenpolitik geht. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt, die Bundeswehr werde ein Sondervermögen in Höhe von etwa 100 Milliarden Euro erhalten. Ende vergangener Woche legte Außenministerin Annalena Baerbock nach und gab mit einer viel beachteten Rede den Startschuss für die Erarbeitung einer Nationalen Sicherheitsstrategie. Allerdings spricht viel dafür, dass es sich bei dieser Politik nicht um eine »Zeitenwende« handelt, sondern dass die Bundesregierung als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine nur das in einem schnelleren Tempo und mit mehr Geld fortsetzt, was Deutschland im Kern schon seit Jahren tut. So wurde der Militärhaushalt in der Vergangenheit immer wieder erhöht. Wer behauptet, dass die Bundeswehr »kaputtgespart« worden sei, der verbreitet eine Mär der Militaristen und Rüstungslobbyisten.

Hinzu kommt, dass Deutschland bereits während der Amtszeiten von Kanzler Gerhard Schröder und seiner Nachfolgerin Angela Merkel Weltpolitik betrieb und die eigenen geopolitischen Interessen gegebenenfalls auch mit militärischen Mitteln durchsetzte. Nach dem Abzug aus Afghanistan laufen derzeit noch elf Auslandsmissionen der Bundeswehr. Sie ist unter anderem in Mali, auf dem Mittelmeer und im Kosovo aktiv. Baerbock hatte in ihrer Rede darauf hingewiesen, dass die Welt vernetzt sei. Somit hält sich die Bundesrepublik die Option offen, in Konflikten einzugreifen, die auch weit entfernt sein können. »Wir verteidigen unsere Sicherheit sowohl hier vor unserer Haustür, zehn Autostunden entfernt, genauso wie in der vernetzten Welt«, erklärte die Grünen-Politikerin.

Der Fokus der deutschen Militärpolitik wird in Zukunft verstärkt auf Osteuropa gerichtet sein. Aber auch das ist keine grundsätzliche Neuigkeit. Deutschland führt die Battlegroup der Nato in Litauen. Die Stationierung der Bundeswehrsoldaten im Baltikum wurde bereits nach der rechtswidrigen Sezession der Krim im Jahr 2014 und dem Kriegsausbruch im Donbass entschieden. Außerdem ist die Bundeswehr derzeit mit sechs Eurofightern an der Außengrenze der Nato in Rumänien präsent. Die Leitung der dortigen Nato-Mission hat die italienische Luftwaffe übernommen. Nun werden die Bundesrepublik und ihre westlichen Partner die Truppen aufstocken. »Wir müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass das gesamte östliche Bündnisgebiet einer neuen Bedrohung unterliegt, wir also Nato-Präsenzen in den Ländern Südosteuropas aufstellen müssen«, kündigte Baerbock an. Dabei wollen sich die europäischen Staaten nicht nur auf die Nato verlassen. Der »Strategische Kompass« der EU, der nun beschlossen wurde, sieht unter anderem die Aufstellung einer gemeinsamen Eingreiftruppe von 5000 Soldatinnen und Soldaten bis 2025 vor. In der Anfangszeit will die Bundesrepublik die Führung übernehmen.

Der Begriff »Zeitenwende« trifft weniger auf die deutsche Militärpolitik, sondern vielmehr auf die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zu. Um diese nicht zu gefährden, hatte die Bundesregierung lange mit Waffenlieferungen an die Ukraine gezögert. Das überließ sie den USA und anderen westlichen Staaten. Erst nach dem Angriff wurde die frühere Sowjetrepublik auch von Deutschland aufgerüstet. Zudem hat die Bundesregierung das Projekt Nord Stream 2 gestoppt und will unabhängiger von den Gas- und Ölimporten aus Russland werden. Baerbock sprach in diesem Zusammenhang von »energiepolitischer Souveränität«. Deutschland müsse weg von den fossilen Brennstoffen und schnell hin zu erneuerbaren und effizienten Energien. Das seien nicht nur Investitionen in saubere Energie, sondern Investitionen in »unsere Sicherheit und damit in unsere Freiheit«, so die Außenministerin.

Weil aber der Energiebedarf noch nicht zu 100 Prozent aus Erneuerbaren gedeckt werden kann, wird die Bundesregierung in Zukunft Entscheidungen treffen, die vor allem den Wählern der Grünen nicht gefallen werden. So hat sich die Koalition kürzlich darauf geeinigt, dass die Stilllegung der Kohlekraftwerke des Landes ausgesetzt wird. Somit ist es wahrscheinlich, dass der von SPD, Grünen und FDP angekündigte Ausstieg aus der Kohleverstromung wohl erst nach dem Jahr 2030 erfolgen wird.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ist zudem auf der Suche nach neuen Partnern in der Energiepolitik. Fündig wurde der Grünen-Politiker ausgerechnet bei den Diktaturen am Golf. In Begleitung einer Wirtschaftsdelegation hatte Habeck in Katar Geschäfte deutscher Firmen zur Versorgung Deutschlands mit Flüssigerdgas angebahnt. Anschließend führte er in den Vereinigten Arabischen Emiraten Gespräche über eine Zusammenarbeit im Wasserstoff-Bereich. Die Kooperation mit diesen Ländern, die unter anderem für schwere innerstaatliche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, zeigt, dass die von Baerbock angekündigte »wertegeleitete Außenpolitik« nur eine leere Worthülse ist. Auch in diesem Bereich unterscheidet sich die neue Koalition nicht von ihren Vorgängern, die stets freundschaftliche Beziehungen zu ihren Verbündeten auf der arabischen Halbinsel pflegte.

Nicht nur Russland ist als geopolitischer Rivale und Aggressor in Europa im Blickfeld der Bundesregierung. Auch der zunehmende Einfluss Chinas auf der Welt bereitet den Entscheidungsträgern in Berlin Kopfzerbrechen. In Afrika und im indopazifischen Raum habe China komplett in die Stromversorgung mancher Länder investiert, so Baerbock. So würden neue Abhängigkeiten entstehen. Deswegen wird nach den Worten der Außenministerin neben der neuen Sicherheitsstrategie auch eine neue China-Strategie erarbeitet.

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