- Politik
- Gewaltfreier Widerstand im Ukraine-Krieg
Mit anderen Waffen
Die Pazifistin Christine Schweitzer ruft die Ukraine zu sozialer statt militärischer Verteidigung auf. Warum das weder naiv noch ignorant ist
Wer mit Blick auf den Ukraine-Krieg pazifistische Positionen vertritt, bekommt den Vorwurf »naiv« zu sein oder sich nicht für die Angegriffenen zu interessieren. Wie erklären Sie sich das?
Ich denke, das hat mit Hilflosigkeit zu tun, mit dem Gefühl, man muss doch etwas tun. Bis heute ist die Überzeugung ungebrochen, dass irgendwann ein Punkt kommt, wo nur noch Gewalt hilft.
Christine Schweitzer, geb. 1959, beschäftigt sich wissenschaftlich mit Fragen von Krieg und Frieden am Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK). Zudem ist sie Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung. Ihre Promotion schrieb Schweitzer über Interventionen im Raum des ehemaligen Jugoslawien. Die Friedensforscherin ist in der Friedensbewegung aktiv und praktisch in der zivilen Konfliktbearbeitung u. a. auf dem Balkan engagiert.
Manch einstige Kriegsgegner sagen heute auch: »Frieden schaffen ohne Waffen« - schöner Satz, leider Blödsinn.
Waffenlieferungen oder weitere direkte Unterstützung der Ukraine bergen große Risiken für die Eskalation des Konflikts. Vor 1989 hätte es mehrfach beinahe einen Atomkrieg aus Versehen gegeben. Die Gefahr ist groß, dass ein solcher Konflikt außer Kontrolle gerät.
Sie fordern nicht nur ein sofortiges Ende des Krieges und Verhandlungen. Sie gehen darüber hinaus und rufen zu einem alternativen Weg des Widerstands auf. Was muss man sich unter sozialer Verteidigung vorstellen?
Soziale Verteidigung als Konzept in der Friedensforschung wurde in den 1950er Jahren entwickelt, als angesichts der Atomwaffen deutlich wurde, dass eine Verteidigung letztendlich gar nicht mehr möglich sein würde. Einer der ersten, der diesen Vorschlag machte, war Stephen King-Hall, ein hoher britischer Offizier. Grundgedanke ist, dass auch ein Angreifer, Putschist oder Diktator in der Regel die Mitarbeit der Beherrschten braucht. Daraus ergibt sich ein Ansatzpunkt für Widerstand. Denn man kann eine solche Zusammenarbeit auch verweigern. Gewaltfreiheit oder Pazifismus sind richtig verstanden ein dritter Weg zwischen Gewalt und Nichtstun.
Gibt es dafür Beispiele?
Soziale Verteidigung könnte ein Generalstreik sein wie beim Kapp-Putsch 1920 in Deutschland, als man sich dem Versuch entgegenstellte, die neue Weimarer Republik zu stürzen. In anderen Fällen, in denen autoritäre Regimes gewaltfrei beseitigt wurden, kamen vielfältige Methoden zum Einsatz, zum Beispiel bei der Befreiung Sambias von der britischen Herrschaft 1961-63, beim Sturz von Marcos in den Philippinen 1986 oder den Aufständen in Osteuropa, auch in der DDR, die das Ende des Warschauer Pakts und der Sowjetunion besiegelten.Der deutsche Friedensforscher Theodor Ebert hat den Begriff »dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration« geprägt. Hinter diesem sperrigen Wort steckt, dass man nicht in Streik tritt, sondern zum Beispiel als Beamtin oder Beamter an seinem Arbeitsplatz ist, aber Anweisungen nicht befolgt, falsch befolgt oder langsam befolgt. Das hat es schon mehrfach in der Geschichte gegeben, etwa in Norwegen während der Zeit der Besetzung durch die Nazis. Die Lehrerinnen und Lehrer sollten damals ein neues nationalsozialistisches Curriculum in den Schulen einführen. Doch sie haben einfach ihre alten Lehrpläne weiterbenutzt und sich geweigert, die Naziinhalte zu unterrichten.
Und das hat funktioniert?
Viele sind eingesperrt worden, aber da niemand kooperierte, mussten die Nazis die Lehrer wieder freilassen. Und die Schulen blieben nazifrei. Es gibt viele Beispiele für erfolgreichen gewaltfreien Widerstand, und Friedensforscher*innen haben ihre Erfolge vielfach dokumentiert. Soziale Verteidigung im Sinne einer vorher von einer Regierung beschlossenen und eintrainierten Verteidigung hat es allerdings bislang nicht gegeben.
Was kann solch ein Widerstand ausrichten gegen Panzer, Raketen und den Befehl, keine Rücksicht zu nehmen?
Das Konzept hat Grenzen. Wenn es wie Deutschland im Zweiten Weltkrieg nur um Landeroberung geht und man bereit ist, die Bevölkerung zu vernichten. Aber so wenig sich Beobachter gerade sicher sind, was Russlands Ziele in diesem Krieg sind: Wahrscheinlich ist ja, dass es um eine russlandtreue Regierung geht oder um die Annexion bestimmter Territorien. Insofern: Bevor der Krieg angefangen hat, wäre es eine Option gewesen, zu sagen: Besetzt uns, aber gewinnen tut ihr deshalb trotzdem nicht, weil wir uns mit anderen Mitteln weiter wehren. Solch einen Widerstand würde kein Aggressor mit Bombardierungen bekämpfen. Einen bewaffneten Verteidiger erschießt man einfacher als die Teilnehmer einer friedlichen Versammlung am Dorfeingang.
Die Ukraine hat sich aber für einen anderen Weg entschieden. Gegen Ihren Vorschlag wird deshalb eingewendet, dass er nicht die Interessen - und Nöte - der Angegriffenen berücksichtigt - und diese mutmaßlich auch nicht interessiert.
In dem Moment, wo man Waffen liefert oder irgendetwas anderes tut zur Unterstützung des Krieges, übernimmt man Mitverantwortung für den Krieg und für die Gewalt. Und wenn man diese Gewalt ablehnt, hat man auch das Recht, solche Bitten abzuschlagen. So schwer es ist. Und überhaupt: In der Ukraine findet durchaus ziviler Widerstand statt. Es gibt etliche Berichte von Bürgermeistern, die sich weigern, die Anweisungen des russischen Militärs zu befolgen. Im Moment des Angriffs haben sich unbewaffnete Menschen Panzern entgegengestellt, und die Panzer haben teilweise wirklich abgedreht. Natürlich stehen sämtliche Kriegsberichte unter dem Vorbehalt, dass wir nicht wirklich überprüfen können, was stimmt. Aber Fakt ist, dass die Ukraine schon zweimal Erfahrungen mit zivilem Widerstand gemacht hat in den letzten 20 Jahren - 2004 in der Orangenen Revolution und 2014 auf dem Maidan. Insofern wäre das vielleicht doch ein Weg, wenigstens für die Städte.
Die Städte sollen sich besetzen lassen?
Nach dem Prinzip der offenen Stadt, wie sie im Zweiten Weltkrieg vielfach angewendet wurde, besonders bekannt ist Rom.
Bedeutet das nicht Kapitulation, so wie Russland sie etwa in Mariupol gefordert hat?
Übergang zu sozialer Verteidigung heißt nicht Kapitulation. Bei einer Kapitulation akzeptiert man, dass der Besatzer das Recht und auch die Pflicht hat, für die Verwaltung und für die Bevölkerung zu sorgen. Stattdessen nimmt man hier zwar hin, dass die Truppen kommen und verzichtet auf militärischen Widerstand. Gleichzeitig beginnt man aber eine Art Volksverteidigung, nur ohne Waffen. Man wählt also in gewissem Sinne andere Waffen.
Würde damit nicht so ein Überfall zu leicht gemacht? Auch mit Blick auf die Angst der baltischen Länder, sonst die nächsten zu sein. Immerhin treibt die militärische Gegenwehr die Kosten für Putin in die Höhe und zeigt, dass er nicht machen kann, was er will.
Die Frage ist, was Putin beabsichtigt. Was er da in seinem Papier vom Juli 2021 geschrieben hat, von der mittelalterlichen Rus und den Brudervölkern Belarus und Ukraine, das spricht ein bisschen gegen einen Angriff auf das Baltikum. Ganz abgesehen davon, dass das halt Nato-Staaten sind. Aber klar, ich hätte noch am 23. Februar gesagt, dass Russland nicht die Ukraine angreifen will. Insofern halte ich mich jetzt mit Vorhersagen zurück.Die zentrale Frage ist: Wann ist der Punkt erreicht, wo das, was man verteidigen will, nicht mehr da ist, weil es zerstört wurde? Gerade bei einem rücksichtslosen Gegner wie Putins Militär, das offenbar bereit ist, viele zivile Opfer in Kauf zu nehmen und versucht, mit den Bombardements der Städte den Widerstandswillen der Ukrainer zu brechen. Bei aller Bewunderung für den Zusammenhalt in der ukrainischen Gesellschaft stellt sich die Frage, wann Verteidigung noch verhältnismäßig ist.
Wie würden Sie diese Frage beantworten?
Wir sitzen hier im sicheren Deutschland. Und es ist natürlich billig, den Menschen in der Ukraine Ratschläge zu geben. Trotzdem sollte man auch darauf hinweisen können, dass es andere Möglichkeiten gibt. Wir wissen nicht, wie dieser Krieg ausgeht. Vielleicht gibt es eine Verhandlungseinigung und die Waffen schweigen. Das wäre natürlich zu hoffen. Denkbar ist aber auch, dass Russland sich militärisch durchsetzt. Und was dann? Dann ist vielleicht auch für die Ukrainer der Zeitpunkt gekommen, zu gewaltfreien Mitteln zu greifen.
Wie könnte soziale Verteidigung dann aussehen?
Bei einer Besetzung der Ukraine durch Russland würde sich der Widerstand mutmaßlich eher auf den politischen Bereich richten. Russland würde wahrscheinlich eine Regierung einsetzen und dann irgendwelche Wahlen durchführen und da ginge dann keiner hin, die Behörden würden nicht mitmachen und die Bevölkerung würde alles boykottieren, was von den neuen Machthabern kommt. Egal, ob es der eigene Diktator ist oder ob ein fremdes Land einmarschiert ist: Es geht eigentlich immer um dasselbe: um die Beseitigung einer Herrschaft, die man nicht als tolerierbar ansieht.Bekommen Sie Reaktionen aus der Ukraine auf solche Vorschläge?
Wir haben Kontakt zu Leuten aus dem Umfeld der Internationale der Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner, die den Dienst an der Waffe verweigern, sowie zur Ukrainischen Pazifistischen Bewegung um Yurii Sheliazhenko, der in Kiew lebt. Von denen hören wir, dass man sich so einig in der Ukraine nicht ist. Auch da gibt es Männer, die nicht kämpfen wollen. Die nur nicht außer Landes gelassen werden, weil es Kriegsdienstverweigerung als Recht in der Ukraine nur sehr eingeschränkt gibt.
Viele andere Berichte aus der Ukraine erzählen allerdings, dass es dort weit mehr Freiwillige für die Armee gibt als die gerade braucht.
Das will ich nicht bestreiten. Aber es gibt auch diese anderen Stimmen - sicherlich ist es eine Minderheit. Natürlich ist es im Moment schwer, mit anderen Meinungen oder Fragen und Zweifeln Gehör zu finden. Ich glaube aber, wenn man Menschen fragen würde, wie es mit diesem Krieg weitergehen soll, würden auch mehr sagen, lasst uns doch lieber zu zivilem Widerstand übergehen. Aber man kann ja keine Volksbefragung machen mitten in einem Krieg.
Der Bürgermeister von Kiew sagt: »Im schlimmsten Fall werden wir sterben, aber wir werden uns niemals ergeben.« Soll heißen: »Lieber tot als unfrei«. Er scheint völlig andere Grundannahmen zu haben als Sie.
Eine Grundannahme ist, dass kein Mensch das Recht hat, für andere Menschen zu entscheiden, ob sie leben oder sterben wollen. Gewaltfreier Widerstand ist nicht risikolos. Weltweit haben dabei viele Menschen ihr Leben verloren. Aber es ist zumindest die Option, wo man nur sich selbst in Gefahr bringt. Politiker sprechen mit solchen Statement jedoch nicht nur für sich selber, sondern sie entscheiden das für alle anderen. Auch für die, die das nicht wollen. Und dass es diese Menschen auch in der Ukraine gibt, sieht man ja daran, wie viele versuchen, das Land zu verlassen. Insofern würde ich nicht davon reden, dass das Konsens in der Gesellschaft ist.
Sie rufen auch die russische Bevölkerung und die russischen Soldaten auf, ihren Gehorsam zu verweigern. Wie realistisch finden Sie das in einem autoritären System?
Ich sehe da sogar mehr Potenzial, als ich selbst lange Zeit gedacht habe. Wir wissen von einzelnen Leute, die versuchen, sich dem Wehrdienst zu entziehen, indem sie das Land verlassen. Deutschland sollte das fördern und russischen Kriegsdienstverweigerern Asyl gewähren. Das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO) hat gerade eine sehr spannende Dokumentation »Russians are against the war on Ukraine« online veröffentlicht. Demnach sind in den ersten Tagen des Krieges in Russland mehr als 330 000 Tweets mit dem Hashtag »Nein zum Krieg« auf Twitter erschienen. Das illustriert, die Zahl der Menschen, die den Krieg ablehnen, ist sehr viel höher, als man auf der Straße wahrnehmen kann. Ich gehe davon aus, dass die Kampfmoral bei den russischen Truppen nicht besonders groß ist. Viele der jungen Männer, die jetzt in der Ukraine kämpfen, stellen nun fest, dass die ganze Propaganda, mit der sie gefüttert wurden, nicht stimmt. Die Ukrainer haben nicht auf die Befreiung von Nazis gewartet. Und die Ukrainer können das auch noch in ihrer eigenen Sprache erklären. Gemeinsame Sprache und vielfältige familiäre Bande - das sind für soziale Verteidigung eigentlich günstige Bedingungen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.