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Wenn die Masken fallen
Die Rakete fliegt: »Geht es dir gut?«, fragen René Pollesch und Fabian Hinrichs an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Viel wird gelacht an diesem melancholischen, wenig hoffnungsvollen Theaterabend. Was soll man auch tun? Fragt sich Fabian Hinrichs auf der Bühne, fragt man sich im Zuschauersaal. Zwei Plätze neben mir greift eine Frau, um selbstdarstellerische Ambitionen nicht verlegen, nach einem kleinen Paket und öffnet lautstark eine Folie in der irrigen Annahme, die Angelegenheit sei weniger störend, wenn sie in Zeitlupe ausgeführt würde. Schließlich zieht sie eine Ukraine-Flagge hervor und umwickelt sich damit. Nationalgefühle und ein trauriges bisschen Symbolpolitik werden nicht helfen. Was denn helfen wird, darauf findet man in dieser Inszenierung, die ganz berührend ehrlich um sich selber kreist, keine Antwort.
Krise ist bekanntlich immer. Leicht geht einem dieses mehr als abgedroschene Wort über die Lippen. Und doch lässt sich die gesellschaftliche Realität der letzten zwei Jahre kaum besser fassen. Krise, Krise, Krise - des Gesundheitswesens, der staatlichen Legitimation, der Diplomatie zum Beispiel. Diese Krisenerscheinungen zeitigen ihre psychischen Niederschläge: medial kanalisierte Hysterie, gestörtes Sozialverhalten, Überidentifizierung, Angstprojektionen. Und wer kann eigentlich noch schlafen in dieser Zeit? Katastrophen-Liveticker auf dem Bildschirm - nächtliches Gedankenrasen im Bett.
Ganz einig ist man sich in der Forschung nicht: Ist Schlaflosigkeit eine der Ursachen einer Depression, oder handelt es sich dabei um ein Symptom dieses Gemütszustands? Die Depression ist längst ausgewachsen zu einer nicht mehr individuellen Verfasstheit, sondern zur gesamtgesellschaftlichen Neurose in der spätkapitalistischen Gegenwart im Angesicht der heraufziehenden Apokalypsen, seien sie nun klimatisch, militärisch, pandemisch oder postdemokratisch.
»Ich bin sooooo müde«, heißt es immer wieder an dem Premierenabend am Donnerstag an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, nicht ohne die sinnfällige Ergänzung: »und hellwach.« Im Lauf der 90-minütigen Inszenierung mit dem Titel »Geht es dir gut?« wird daraus bald ein »müde und wahnsinnig«.
Müdigkeit wurde, nicht zu Unrecht, auch dem Theater seit dem Antritt der Intendanz durch René Pollesch im Spätsommer letzten Jahres attestiert. Die Erwartungen an das Haus waren klar: endlich wieder relevante Kunst jenseits der bürgerlichen Selbstbespaßung zu zeigen und auszuloten, wie weit politische Wirksamkeit innerhalb der Arbeitsstrukturen und in die Stadt hinein möglich sind. Zuletzt machte sich seitens Publikum und Kritik Unmut breit. Weiter ungeklärt ist die Frage nach dem Bündnischarakter der Bühne für politische Bewegungen oder etwa die nach einem Einheitslohn. »Geht es dir gut?« aber ist ein endlich sehr wacher Theaterabend.
Das liegt nicht zuletzt an Fabian Hinrichs, diesem einnehmenden Solitär der Schauspielkunst. Polleschs und Hinrichs’ Zusammenarbeit hat bereits einige bemerkenswerte Inszenierungen hervorgebracht. Der vorläufige Höhepunkt bestand in dem Spektakel »Glauben an die Möglichkeit einer völligen Erneuerung der Welt« (2019) am Berliner Friedrichstadtpalast. Das war weniger theoriesattes Diskurstheater, wie man es von Pollesch kennt, als vielmehr ein kluger Abend, der ganz auf einen großen Schauspieler gesetzt hat. In gewisser Weise hat die zumeist nur oberflächliche Selbstbefragung des Theaters auf dem Theater einer Liebeserklärung an die darstellende Kunst Platz gemacht.
Diese umjubelte Inszenierung aus vorpandemischen Zeiten hat nun ihre Fortsetzung mit »Geht es dir gut?« gefunden. Hinrichs bestreitet einen großen Monolog allein auf der kargen Bühne (Katrin Brack) und findet szenische Unterstützung durch die Flying Step Dancer und auch musikalische und chorische Verstärkung durch die Afrikan Voices sowie die Bulgarian Voices Berlin. Alles, was der Darsteller da zum Ausdruck bringt, ist totale Gegenwartsbeschreibung. Neue Erfahrungen mit dem alten Phänomen Entfremdung. Maske auf, Maske ab - das ist der Alltag zwischen Überreiztheit und Langeweile, zwischen Solidarität und Vereinzelung. Reinlassen oder nicht, so benennt Hinrichs den Handlungsspielraum in den Tagen des Lockdowns. Vom Virus geht es zum Krieg - Nabelschau im Angesicht der weltverändernden Einschläge.
Kann das gutgehen, so viel Tagespolitik, ja Gefühligkeit auf der Bühne? Gemeinhin eher nicht. Die scheintheatrale Abbildung des Zeitgeschehens ist zumeist der Todesstoß der Kunst. Pollesch/Hinrichs aber versuchen nicht die große Analyse, sondern konzentrieren sich auf die Beschreibung eines Gefühls, das Gesellschaftszustand geworden ist: Hilflosigkeit. Das trifft einen Nerv, wird eindrucksvoll in verschiedenen Facetten gezeigt. Dass die Grenze zum Kitsch mehr als nur ein Mal berührt wird, bleibt verzeihlich.
Was sind das für Gedankensprünge? Pandemie auf der einen Seite, Krieg auf der anderen. Und auch der Klimawandel findet seinen Platz. Der Wechsel zwischen diesen Themen wirkt nicht konstruiert. Das individuelle und kollektive Scheitern an den Verhältnissen ist die motivische Schablone hinter beidem. Und in beiden Fällen wird der Mensch zum Zuschauer: Kriegsspektakel hier, Zoom-Voyeurismus dort. Scheitern an sich selbst, Scheitern an der Kommunikation mit anderen - das sind unsere banalen Problemlagen auch noch angesichts existenzieller Bedrohungen. Wir sind auf den Bildschirmen zu zweidimensionalen Menschen degradiert, meint Hinrichs - und eigentlich noch immer eindimensional, ahnt man mit Marcuse.
Augenscheinlich wird all das auch durch die übergroße Rakete, die auf der Bühne landet und wieder startet. Als die einen solidarisch zu Hause bleiben sollten, unternahmen andere Weltraumausflüge. Und Raketen ganz anderer Art fliegen derzeit mit zerstörerischer Wirkung. »Sie sind draußen vor der Tür, tausend Kilometer von uns«, ruft Hinrichs in seiner Litanei. Und wo sind wir?
Nächste Vorstellungen: 2., 14. und 25.4.
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