- Kultur
- Ukraine-Krieg
Ja tebe kochaju. Ich liebe dich
Eine Liebe in Zeiten des Krieges. Wie Martin aus Deutschland seine Oksana aus der Ukraine holte
Es war Liebe auf den ersten Blick», sagt Martin Damisch. Greift nach ihrer Hand und lächelt sie an. Sie strahlt zurück: Oksana Bozhuk, «bald Damisch», wie beide unisono betonen. Im Mai wollten sie in der Ukraine heiraten. Der Krieg hat das Vorhaben vereitelt.
Es ist eine zarte, noch junge Liebe. Sie haben sich im polnischen Kołobrzeg kennengelernt. Im Sommer vergangenen Jahres begegneten sie sich im polnischen Ostseebad, das zu Zeiten preußischer Herrschaft Kolberg hieß. Martin weilte dort im Urlaub mit seinen Kindern. «Es war am 17. Juli.» Er suchte mit Tochter und Sohn ein Lokal auf, in dem die Ukrainerin als Bedienung arbeitete.
Eigentlich ist sie gelernte Buchhalterin, erzählt sie bei unserem Treffen in Berlin-Hohenschönhausen, in der Bibliothek «Anna Seghers». In ihrer Heimat seien Arbeitsplätze rar und schlecht bezahlt. Deshalb habe sie sich entschlossen, in Polen nach Verdienstmöglichkeiten zu suchen, wurde fündig und bekam ein Arbeitsvisum für drei Monate. Ihre drei «Malschiki», die Jungs aus erster und zweiter Ehe, musste sie zu Hause bei der Großmutter lassen. Mit «Doma», zu Hause, meint Kamin-Kaschyrskyj, eine Stadt in der Westukraine, im Oblast Wolyn (Wolhynien), mit etwa 10 000 Einwohnern.
«Mir fiel Oksana sofort auf», erinnert sich Martin. Kein Wunder, sie ist eine Schönheit. Groß und schlank, lange schwarze Haare. Und ein offenes, freundliches Gesicht. «Einen Tag später bin ich wieder in das Lokal gegangen.» Um sie wiederzusehen. «Ich habe mich an die Theke gesetzt, einen Cappuccino bestellt.» Er nimmt allen Mut zusammen, spricht die schöne Fremde an. Auf Englisch. In der Sprache der Angelsachsen kommunizieren die beiden noch heute. Martin spricht weder Russisch noch Ukrainisch. Sie hat vorerst nur einen Schnellkurs in Deutsch absolviert. Drei Worte aber kennen beide in der Sprache des anderen ...
Martins Mut wird in jenem Sommer 2021 belohnt. Oksana sagt einem Treffen nach der Arbeit zu. «Ich war furchtbar aufgeregt, wie ein Teenager. Meines erstes Date nach 21 Jahren», gesteht Martin. Um seine Aufregung zu unterdrücken, lutscht er einen Bonbon nach dem anderen. Die Zeit bis zum Abend erscheint ihm unendlich lang. Dann endlich: Sie sitzen am Strand, «obwohl es nicht sehr warm war», beobachten den leichten Wellengang, ergötzen sich am Sonnenuntergang und erzählen einander aus ihrem Leben.
Martin stammt aus Bielefeld, betrieb dort erfolgreich einen Imbiss am Hauptbahnhof. Bis er von einem Großanbieter im Gastronomiegewerbe verdrängt wird. 1994 zieht er nach Berlin. Die nicht mehr geteilte Stadt an der Spree verspricht neue berufliche Herausforderungen. Drei Jahre lebt er hier, fasst nicht richtig Fuß, kehrt nach Bielefeld zurück. «Ja, Bielefeld gibt es wirklich», bestätigt Martin, einem Scherz aus Schnapslaune widersprechend, einer Art Verschwörungstheorie, von Nerds verbreitet, die seitdem durch die deutsche Spaßgesellschaft wabert.
Er macht die Erfahrung: «Wenn man einmal in einer Großstadt gelebt hat, fühlt man sich in der Provinz beengt.» 1999 übersiedelt er ganz nach Berlin, in die per Parlamentsbeschluss frisch gekürte Hauptstadt des vereinten Deutschland. «Ich war 28 und immer noch Single. Es schien mir an der Zeit, eine Familie zu gründen.» Er eröffnet einen neuen Imbiss, in Weißensee, an einer stark frequentierten Ausfahrtstraße hin zur Autobahn. Umliegende Betriebe bescheren zahlreiche Kundschaft. Den Imbiss betreibt er auch heute noch, gemeinsam mit seiner ersten Frau. Sie haben sich getrennt, bevor Martin seine neue Liebe fand. «Im Guten», wie er betont. Seine Ex-Frau habe ebenfalls neues Glück gefunden. Weihnachten habe man gemeinsam mit der jeweils neuen Partnerin gefeiert.
Doch zurück: An jenem Abend im vergangenen Jahr am polnischen Ostseestrand kam es nicht nur zum ersten Kuss. Martin schlägt Oksana vor: «Wenn du mal nach Berlin kommst, zeige ich dir die Stadt.» Sie möchte gern. Doch noch ist es nicht so weit. Oksanas Arbeitsvisum für Polen läuft aus. Sie muss und will erst einmal zurück in die Ukraine. Freut sich darauf, ihre drei Söhne wieder in die Arme zu schließen.
Die Liebe zwischen Martin und Oksana erlischt nicht, lodert weiter. Die Entfernung kann ihr nichts anhaben. Die beiden können und wollen sich jedoch nicht mit einer Fernbeziehung begnügen. Oksana meldet sich zu einem Deutschkurs in Berlin an. Im Dezember reist sie das erste Mal und zunächst allein, ohne ihre Söhne, nach Deutschland. Sie lernt Martins Kinder kennen, ebenfalls derer drei. Martin und Oksana verloben sich und schmieden Hochzeitspläne. Sie wollen sich in Kamin-Kaschyrskyj, im Beisein von Oksanas Familie, trauen lassen. Doch dies vereitelt der Krieg in der Ukraine. Oksana berichtet von Jahren der Anspannung, Ungewissheit und Angst vor einer militärischen Ausweitung des Konflikts mit Russland. Man habe dennoch nicht glauben, sich nicht vorstellen können, was am 24. Februar Wirklichkeit wurde. Sie weilt da noch bei Martin in Berlin, bangt um die Ihren in Kamin-Kaschyrskyj.
Martin mietet am Samstag, den 26. Februar, einen Transporter, packt ihn voll mit Hilfsgütern: Windeln, Zwieback, Milch, Haferflocken, Wasser und Weißbrot. Am Sonntag brechen sie früh auf, fahren schnurstracks durch Polen. Am Abend sind sie an der Grenze zur Ukraine angelangt. In Dorohusk heißt es erst einmal Abschied nehmen. Martin darf seine Verlobte nicht begleiten - Empfehlung des Berliner Auswärtigen Amtes. Oksana steigt in einen Bus, darin vor allem Männer, Freiwillige aus Polen, Deutschland, England, Slowenien und anderen Staaten, die an der Seite der ukrainischen Armee kämpfen wollen. Martin verbringt eine unruhige Nacht im Transporter. Am Montagmorgen erhält er eine SMS von Oksana und ist beunruhigt. «Sie ist im Kriegsgebiet gelandet. Das war so nicht geplant. Sie sollte in Grenznähe aussteigen.»
Ich gestehe, in ukrainischer Geografie nicht bewandert zu sein. Martin springt auf, eilt zum Bücherregal und zieht einen Atlas heraus. Ich bin beeindruckt, wie rasch er diesen gesichtet hat und ohne lange zu blättern die richtige Seite aufschlägt. Er tippt mit dem Finger auf einen Ort nahe der Grenze zu Belorus: «Hier liegt Kamin-Kaschyrskyj», sagt er, «40 Kilometer von Brest entfernt.» Der Name dieser belorussischen Stadt ist mir geläufig. Dort war im Februar 1918 ein Friedensvertrag, «Brotfrieden» genannt, zwischen dem bürgerkriegsgeplagten Sowjetrussland und dem Deutschen Kaiserreich unterzeichnet worden. Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen fiel Brest gemäß dem geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt - bis dahin polnische Stadt - an die Sowjetunion. Drei Jahre später ist Brest trotz heftigen Widerstands die erste von der Wehrmacht eroberte sowjetische Stadt.
Kamin-Kaschyrskyj hat eine ähnlich wechselvolle, dramatische Geschichte hinter sich, wie ich mittlerweile weiß. Im Mittelalter gehörte es zum Großfürstentum Litauen, in der Frühen Neuzeit zum polnischen Königreich, nach der dritten Teilung Polens unter den europäischen Großmächten Österreich, Preußen und Russland zum russischen Zarenreich, nach dem sowjetrussisch-polnischen Krieg von 1920/21 wieder zu Polen und schließlich - wie Brest - zur UdSSR. Im Zweiten Weltkrieg verübten die mit Hitlerdeutschland verbündeten ukrainischen Nationalisten unter Stepan Bandera Massaker an in Wolhynien lebenden Polen und Juden.
Muss jede Generation Gewalt oder Fremdherrschaft erleiden? In der Ukraine leben über hundert Ethnien, Rumänen, Armenier, Belorussen, Bulgaren, Krimtataren, Polen, Rumänien, Ungarn ... 77,5 Prozent der ukrainischen Bevölkerung identifizieren sich als ethnische Ukrainer, 17,2 als Russen.
Martin will seiner Oksana und deren Kindern Leid ersparen, sie aus dem Krieg rausholen. Während er an der Grenze auf weitere Nachrichten von ihr wartet, macht er sich nützlich, packt mit an, stapelt Kisten und Säcke mit wichtigen Gütern in einer alten Feuerwache. Endlich, am Dienstag, den 29. Februar, meldet sich Oksana wieder per Handy. Sie hat sich nach Hause durchschlagen können, ihre Familie ist wohlauf, sie hoffe, mit den Kindern in zwei Stunden bei ihm zu sein. «Es dauerte vier, fünf Stunden, bis sie endlich kamen», berichtet Martin. «Die Kinder waren hungrig. Da sind wir erst mal zu McDonald’s gegangen, ist doch klar.» Schließlich steht eine große Fahrt an, da muss man gestärkt sein: 1000 Kilometer bis nach Berlin. «Wir sind zehn Stunden gefahren. Ein großes Abenteuer für die Kinder. Natürlich haben die beiden Kleinen zwischendurch gequengelt. Die Kleinen heißen Ilja, sechs Jahre alt, und Nikita, neun. »Maxim, der Ältere, 16, war ganz entspannt«, erzählt Martin.
Oksana und ihre Kinder fühlen sich wohl in Berlin. Es gibt so viel zu entdecken. Ihre Jungs verstehen sich gut mit Martins Kindern - zwei Söhne, 17 und 21 Jahre alt; die Tochter, 16, wohnt beim Vater, ist Leistungsschwimmerin, trainiert im Sportforum Hohenschönhausen. »Neulich hat Isabell den beiden Kleinen von Oksana Geschenke mitgebracht, das fand ich ganz süß«, erzählt Martin. Oksana nickt und lächelt. Ihre Kinder können eine Schule in Berlin erst besuchen, wenn sie alle registriert sind. Das dauert doch etwas länger als vom Senat versprochen. Auch eine Krankenversicherung ist davon abhängig.
Natürlich fiel es Oksana schwer, sich von den Eltern, Großeltern und ihrer Schwester zu verabschieden. Wer weiß, wann sie wieder zu ihnen kann. Wer weiß, wie lange dieser verdammte Krieg noch andauert. Sie skypen jeden Tag, sagt Oksana. Was sie von den Ihren daheim erfährt, klingt von Tag zu Tag unheilvoller, bedrückender. »Straschno«, furchtbar, sei das alles, sagt Oksana. Jüngst soll es zu einer Provokation an der ukrainisch-belorussischen Grenze unweit von Kamin-Kaschyrskyj gekommen sein.
Martin und Oksana lassen kaum eine Nachrichtensendung aus, obwohl die Berichte aus der Ukraine und von den Verhandlungstischen niederschmetternd sind. Kein Hoffnungsschimmer am Horizont. Irritierend die vielen einander widersprechenden Meldungen, Spekulationen, Fake News. »Das ist auch eine Propagandaschlacht. Man muss sich immer fragen, wie alles zusammenhängt, was dahintersteckt, was wem nützt«, sagt Martin. »Schon im Vorfeld lief vieles schief.« Und Oksana will von mir wissen: »Warum hat er das getan? Warum musste Putin uns angreifen? Es werden Menschen getötet, Kinder sterben, Familien werden auseinandergerissen, Städte versinken in Trümmern. Warum?« Martin ergänzt: »In den letzten 30 Jahren haben sich Russland und die Ukraine in konträre Richtungen entwickelt.« Die Kluft zwischen der West- und der Ostukraine sei nicht zu leugnen. »Aber darüber kann man doch reden, da muss man doch nicht gleich Artillerie auffahren und Bombergeschwader losschicken.«
Wird Oksana ihre Eltern und Großeltern nach Berlin holten? Sie habe sie nicht überzeugen können; sie wollen nicht, können nicht, teils krankheitsbedingt. Selbst ihre Schwester hat trotz zweier minderjähriger Kinder das Angebot ausgeschlagen. »Sie ist ein häuslicher Typ, wie meine Eltern und Großeltern in Kamin-Kaschyrskyj verwurzelt«, erklärt Oksana. Auch ihre Freundinnen vermisst sie. Sie telefoniere häufig, doch auch von ihnen erfährt sie nichts Gutes. Die Not wächst, Waren des täglichen Bedarfs werden knapper. Dafür mehren sich Todesnachrichten aus Familien- und Freundeskreisen. Feindschaft verfestigt sich mit jeden Tag. Ukrainer und Russen, die Jahrzehnte friedlich miteinander lebten, Nachbarn und Kollegen waren, beargwöhnen und misstrauen sich, sind ruppig, unfreundlich zueinander.
»Wo soll das noch hinführen?«, fragt Oksana, die in Zeiten der Sowjetunion aufgewachsen ist, in der es zwar selbst nach Stalin ethnische Spannungen und Konflikte gab, einige Nationalitäten und Sowjetrepubliken sich von Russland dominiert, indoktriniert, drangsaliert fühlten. Doch solch eine verfestigte Feindschaft wie derzeit gab es wohl noch nie, vermutet Oksana mit belegter Stimme. Sie befürchtet, dass Putins Aggression eine Wunde geschlagen hat, die nicht mehr heilen wird. »Jedenfalls nicht in absehbarer Zeit«, fügt Martin hinzu. Er legt einen Arm um seine ukrainische Verlobte, schenkt ihr einen innigen Blick. »Ja tebe kochaju« - »Ich liebe dich«, bestätigen sich die beiden einander.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.